Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kurzes Buch ueber das Sterben

Kurzes Buch ueber das Sterben

Titel: Kurzes Buch ueber das Sterben
Autoren: Andrzej Stasiuk
Vom Netzwerk:
Gedanken anziehen, die Erinnerung beleben. Schließlich sind wir immer noch Wilde und brauchen Totems, brauchen Fetische. Der Gedanke muss etwas berühren. Ich muss überetwas weinen können, über etwas Konkretes, nicht nur über meine Erinnerungen. Der Überlebende sollte die Möglichkeit haben, auf der Erde zu stehen, unter der der Verstorbene liegt. Er sollte wissen dürfen, dass der andere dort ist. Dass die Gebeine des Toten über das Leben des Überlebenden wachen. Anderthalb Meter unter der Erde. Er sollte auf diese Stelle seinen Fuß setzen und Kraft daraus schöpfen können. So denke ich manchmal. Sohn eines Volkes, das seine Toten einst unter der Türschwelle begrub. Um sie für immer bei sich zu haben. Damit das Leben ununterbrochen weitergeht. So denke ich manchmal, wenn du mir fehlst. Wenn ich mich ein bisschen einsam fühle. Das soll kein Vorwurf sein. Ich sag es dir nur. Weißt du, wie schrecklich Wólka Węglowa in einer Winternacht ist? Wie leer, dunkel und eisig? Als du durch den Schornstein aus säurebeständigem Stahl davongeflogen warst, als du dich verflüchtigt hattest, als wärst du nie gewesen, waren wir allein. In der Ferne dröhnte die schwarze Stadt – dieses mechanische und zugleich körperliche Brummen, als würde ein gigantisches Vieh einen gnadenlosen Traum träumen, der Wirklichkeit wird. Sicher hattest du keine Ahnung, dass wirdie Hälfte dessen, was von dir übrigblieb, ein paar Tage später illegal den Totengräbern würden abkaufen müssen. Weil du staatliches Eigentum geworden warst. In einer Ecke, hinter dem Grabstein, füllten sie das Pulver ab, als würden sie dealen. Nichts kann man bis zum Schluss voraussehen. In ihren Traueruniformen sahen sie aus wie geflohene Zirkusartisten, mit diesen sphinxhaften Mienen, mit diesen Gesichtern, in denen der vergangene Tag geschrieben steht, und eine resignierte Weisheit. Ganz wie die Jungs aus Grochów. Wie die aus dem Osiedlanka, dem Zagłoba, dem Grochowski. Wie die Typen in der Makowska nach Feierabend. Wie die Jungs, die zwei vor sechs am Tor zur Stanzerei, zur Direktion, zur Schweißerei die Karten in die Stechuhr schieben. Wie unsere Väter aussahen, bevor sie endgültig alt wurden. Nichts kannst du bis zum Schluss vorhersehen, und du weißt nicht, wer dich über den Styx fährt. Die Jungs aus Grochów, die für einen Hunderter die Hälfte deines Körpers abfüllen. So sieht’s aus.
    Nach drei Monaten haben wir ihn in den Bergen verstreut. An der Stelle mit dem weiten Blicknach Südosten, mit dem dunkelgrünen Gipfel des Węgierzec. Wir verstreuten ihn in der Landschaft, die er liebte. So hatte er es gewollt. Dass der Wind ihn in der Welt verwehte, in diesem Tal. Es war Ostern, die Sonne kalt, und der Wind wehte tatsächlich. Für den Bruchteil einer Sekunde war er noch sichtbar, dann verschwand er für immer, unauffindbar. Ein bisschen fiel mir ins Auge, aber die Träne spülte den Staub sofort weg.
    * Diese Worte stammen aus der polnischen Variante des Liedes, die mit dem englischen Originaltext nichts zu tun hat. (A. d. Ü.)
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher