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Kurzes Buch ueber das Sterben

Kurzes Buch ueber das Sterben

Titel: Kurzes Buch ueber das Sterben
Autoren: Andrzej Stasiuk
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sie dir Formalin gespritzt, dachte ich. Er schloss die schmale, verglaste Tür hinter sich und ging die Stadt anschauen, die ihm gleichgültig war. Ebenso wie mir, aber ich erinnerte mich immerhin an den ersten Aufenthalt und an meine Begeisterung, weil mich nichts von dem trennte, was ich vorfand. Ich sah, wie er beim Gehen den Kopf gesenkt hielt, als ginge er gegen den Wind. In die Landschaft hinein, als wollte er sie so schnell wie möglich überwinden, auf die andere Seite gelangen, mitten durch dieses kalte Ostern hindurch.
    Wo wolltest du damals sein? Wohin bist du gegangen? Die Garwolińska bis ans Ende, dann rechts durch die Makowska die Gleise entlang Richtung Olszynka? Wenn wir entwischen wollen, kehren wir dann immer zurück? Rollen uns zusammen wie ein Embryo? Damit wir so wenig wie möglich sind, damit wir keinen Platz brauchen, dem Nichts keinen Widerstand entgegensetzen? Ich weiß es nicht.
    Ich rufe mir in Erinnerung, dass der erste topographische Name, den ich mir merkte, derPlac Szembeka war. Wir wohnten in der Grochowska, ein paar Hausnummern von diesem Platz Richtung Wiatraczna. In einem Zimmer mit einem Kohlenherd in der Ecke links von der Eingangstür. Im Parterre. Das einzige Fenster ging auf den Hof. Ich saß stundenlang dort und schaute mir das Leben an. Da brachte jemand den Müll weg, jemand ging zu dem hölzernen Scheißhäuschen, jemand holte mit Eimern Wasser. Die Kinder wirbelten pausenlos herum. Die Jungs auf den geteerten Dächern der Kohleschuppen. Von Zeit zu Zeit ging ein Fenster auf, und jemand vertrieb sie mit einem Schrei. Braun das Holz, schwarz der Teer, grau der Beton oder auch Sand im Hof. Ich saß stundenlang da, denn ich war vier, und meine Mutter fand, da draußen sei es für mich noch zu gefährlich. Den Plac Szembeka merkte ich mir als ersten Namen eines Teils der Welt. Auf dem Szembeka dies, auf dem Szembeka jenes, neben dem Szembeka, hinter dem Szembeka ... Als sei er das Maß aller Dinge. Dort stand eine Kirche. Mitten auf dem Platz, grau, Vorkriegsmoderne. Eine Variation auf die Gotik. Vielleicht ist mir der Name Szembek durch den fremden Klang in Erinnerung geblieben. Wir gingen jeden Sonntag. Zu dritt,ich in der Mitte. In weißen Strumpfhöschen, mit Baskenmützchen. Sicher hielt ich meine Eltern an den Händen. Über einige Stufen betraten wir die Kirche. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ich allein gewesen bin, dass sie gar nicht mit dort waren; Mutter und Vater waren nicht da, nur ich und dieser Raum. Die Menschen habe ich vergessen. Nur der Eindruck des hohen Kirchenschiffs ist geblieben. Auch an die Langeweile kann ich mich nicht erinnern oder an die Kühle. Der Hinterhof mit dem Scheißhäuschen und dem Trubel, vom Fenster aus beobachtet, und die menschenleere Kirche, das sind meine frühesten Erinnerungen an Grochów. Ich sehne mich keineswegs nach ihnen, aber andere werde ich nicht haben. Auf der anderen Seite der Grochowska, in der Zamieniecka, war ein Markt. Nicht weit davon gab es eine Konditorei mit Wandmalereien, die große schlanke Neger darstellten, auf einem gelben Wüstenhintergrund. Aber es kann genauso gut ein Strand gewesen sein. Wenn ich heute den Geruch dieses Raums in die Nase bekäme, würde ich ihn sicher erkennen. Die Körper der Neger hatten die gleiche Farbe wie die Berliner in der Glasvitrine. Deshalb dachte ich, die Afrikaner seien im Grunde essbar und schmeckten süß. Später ging ich mit meiner Mutter in den Park. Ich ganz nah an der Erde, im Dickicht, als müsste ich mich durchschlagen. In den schmiedeeisernen, viereckigen Schächten gluckerte das Wasser und schwappte über den Rand. Innen waren Ventile mit runden verzierten Hähnen. Die Gärtner schlossen hier Schläuche an. Das Wasser ergoß sich ringsum und bildete Pfützen. An heißen Tagen strömten sie Kühle aus. Viel mehr als diese bodennahe Perspektive mit den dunklen Wasserspiegeln und dem Kies auf den Wegen ist mir nicht im Gedächtnis geblieben. Und ähnlich wie in der Kirche habe ich auch hier keine Anwesenheit von Menschen in Erinnerung. Nur den warmen, herben Geruch von Hitze und Fäulnis.
    Ganz Grochów roch so. Überall machte sich nichtgejätetes Unkraut breit, wucherte Brachland. Das Dorf war zu Ende, aber nichts fing an. Baracken, verblichene Dachpappe, alles flach. Die Stadt erhob sich in der Ferne. Von den hohen Bahndämmen in Olszynka sah man die rote untergehende Sonne und den schwarzen Umriss des Kulturpalastes. Aber das war später.Jetzt
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