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Kurzes Buch ueber das Sterben

Kurzes Buch ueber das Sterben

Titel: Kurzes Buch ueber das Sterben
Autoren: Andrzej Stasiuk
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Zementziegeln standen im Geviert. Der Hof war grün, zugewachsen wie ein Dorfgarten. Die Leute gingen an die Sonne. Blasse Männer, mollige Frauen. In der Wärme, im Licht saßen sie auf Bänken und blinzelten. Die Kinder hatten einen Sandkasten. Die Geräusche der Großstadt drangen nicht hierher, nur die Laute des gewöhnlichen menschlichen Lebens. Bisweilen, hauptsächlich nachts, hörte man Züge. Dann nahm er die Gitarre, spielte mit einem Finger und sang flüsternd Midnight Special . Die Version von Big Bill Broonzy, die Version von Leadbelly, die Version von Sonny Terry und Brownie McGhee, mit einem Finger, flüsternd. Am Morgen sahen wir aus dem Fenster und betrachteten die bleichen Typen und dicken Frauen aus den stickigen, von Essensgeruch und dem Gestank im Flur stehender Schuhe durchtränkten Wohnungen. Solange er lebte, suchte er nach einer Möglichkeit, sein Lied über sie zu schreiben, mit seiner Stimme drei Strophen über ihr Leben zu singen. Über das Leben unserer Väter und Mütter. Weil wir Verräter waren, aber niemals unsere Erinnerung verloren haben.
    Heute schalte ich Google Earth ein und schaue mir diese Gegend an. Haus für Haus, Baum für Baum, Schritt für Schritt. Ich gehe aufYouTube und finde die ganzen Lieder. Damals wussten wir nicht einmal, wie Leadbelly aussah. Wir wussten fast nichts. Wir mussten uns alles vorstellen. Woody Guthrie, die Transsibirische Eisenbahn, das eigene Leben.
    Am späten Nachmittag fuhren wir zurück. Er schwebte zwischen Schlaf und Wachen. Hin und wieder fragte er, wo wir sind. Bircza, Tyrawa, Sanok. Beruhigt nickte er und schloss die Augen. Es war Juli, Heuernte. Auf den Wiesen lagen gepresste Heuballen. Noch ein paar Jahre zuvor hatten überall schlanke Heuhaufen mit Leitern gestanden, wenn wir durch Pogórze fuhren. Wenn die Sonne sank, warfen die Heuhaufen lange dunkelgrüne Schatten. Alle zeigten in dieselbe Richtung, eine schöne und unwirkliche Geometrie in der gewellten, ungleichmäßigen Landschaft. Jetzt gab es die Heuhaufen nicht mehr. Zarszyn, Besko. In Rymanów bog ich nach Süden ab, um über Daliowa, Tylawa und Dukla die Straße Nr. 993 zu erreichen. Gleich hinter Łysa Góra eröffnet sich in nordwestlicher Richtung ein überwältigender, unbegrenzter Blick. Die Erde fällt sanft ab, die Beskiden werden flacher und erlauben der Luft endlich, sich auszudehnen. Bei Sonnenuntergang verwandeln sich die violetten, roten und goldenen Streifen, zuerst horizontal und deutlich am Rande des Bildes, in lichten Staub, der sich auf die Ebene legt, auf Żmigród, auf Jasło, auf diese Welt, die unten schon dunkelt, zu Asche und Schatten wird. Die riesige Mulde voller Glut und erkaltender Kohle schließt der Liwocz ab. Sein langer dunkelblauer Rücken schützt den Kessel vor den Winden, damit alles ruhig und unausweichlich verbrennen kann. So ist es hier immer. Auch diesmal war es so. Ich wollte wie gewöhnlich am Seitenstreifen anhalten, aber ich hatte Angst, ich könnte ihn wecken. Also fuhr ich nur langsamer und schaute nach rechts. Er schlief mit zurückgelegtem Kopf. Sein Mund war leicht geöffnet. Ich sah, wie sein dunkles Profil am glühenden Himmel vorbeizog. Schließlich blendete mich das Licht und verschlang die schmächtige Gestalt.
    Er fehlt mir. Nicht einmal, weil er tot ist. Daran kann man sich gewöhnen. Man denkt eben ein wenig anders an das Leben von jemandem, wenn es vollendet ist. Man muss sich daran gewöhnen, dass sich nichts mehr ändert und man nur noch die Vergangenheit haben wird. Abermir fehlt der Ort, an dem er ist. Nicht dass ich sofort sein Grab besuchen wollte. Jedenfalls nicht unbedingt. Aber ich würde gern wissen, dass er in materieller Form irgendwo existiert. Dass er an einem bestimmten Ort anderthalb Meter unter der Erde liegt, den er nicht mehr wechselt. Dass irgendwo Beweise für seine Existenz und für die Existenz all dessen liegen, was das Gedächtnis bewahrt. Oder genügt die Erinnerung sich vielleicht selbst? Manchmal fehlt mir also dieser Ort. Geradeheraus gesagt, seine Überreste fehlen mir, wenn das auch makaber klingen mag. Der Beweis, dass wir wirklich gelebt haben, oder nicht?
    Was ist dir da überhaupt in den Sinn gekommen, dich verbrennen zu lassen? Dass es schön ist, wenn nichts bleibt und nur der Geist in den unendlichen Raum aufsteigt? Dass du deinen ausgemergelten Körper nicht der Zersetzung überlassen willst, dem langsamen Eindringen in die Erde? Das Skelett dagegen würde ewig leben. Und würde
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