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Kurzes Buch ueber das Sterben

Kurzes Buch ueber das Sterben

Titel: Kurzes Buch ueber das Sterben
Autoren: Andrzej Stasiuk
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äußerlich banalen Abstecher auf die andere Seite der Existenz. Großmutters Verwandter, der in der Kredenz stöberte, jetzt sehe ich das genau, kommt an Realität und Macht dem Geist des Dieners Filka gleich, der mit einem ganz gewöhnlichen Loch am Ellbogen in Arkadij Iwanowitschs Zimmer erscheint.
    Warum hat sie nie von Heiligen erzählt? Von übernatürlichen Existenzen, die von der Kirchenlehre bestätigt wurden? Warum sind ihr Petrus, Paulus oder die heilige Lucia nie erschienen? Sie alle hat sie nur zum Abmessen der Zeit benutzt. Als wären sie tote Gegenstände, etwas wie ideale Maße oder Gewichte. Die Unbewegtheit dieser Heiligen war die Unbewegtheit der Figuren, denen sie am Sonntag in der Messe begegnete. Die kleine Holzkirche stand in ebenso tiefem Schatten wie Großmutters Haus. Der knarrende braune, vergoldete Innenraum eröffnete ihr einmal in der Woche ein Bild der Unendlichkeit und des Lichts, das Bild eines fernenVersprechens und einer noch ferneren Belohnung.
    Geister hingegen, von Sünde und Fluch gezeichnete, träge Seelen und der Tod begleiteten ihr tägliches Leben. Die Wahrheit, dass der Mensch dem Tod, der Verdammung und dem Zufall näher ist als der Erlösung, hat in ihrem Leben eine Verkörperung gefunden.
    Im Übrigen war sie kein Einzelfall. Meine zahlreichen Tanten und Großtanten, die ich in ihrem Haus antraf, nahmen regen Anteil an den Geschichten und ergänzten sie ihrerseits, bis Großvater genervt dazwischenfuhr: »Wann seid ihr Weiber endlich still!« – ob von Rationalismus oder Angst geleitet, werde ich nie erfahren. Sie verstummten dann für eine Weile, um bald darauf wieder, wie perfide Parzen, den Faden jenes anderen, verborgenen Lebens zu spinnen, eines Lebens, das keinen Moment vergisst, dass es zugleich aus Verlust und Sterben besteht.
    Die Geschichte von einer Mutter, die mittags um zwölf auf dem Feld die Gestalt einer unbekannten alten Frau in grauem Kleid sah und deren Kind am selben Tag erkrankte und bald darauf starb.
    Die Geschichte, wie Großmutter einesAbends den Stall betrat und etwas, das gerade weglief, sie fast umgeworfen hätte, worauf keine der Kühe mehr Milch gab.
    Die Geschichte ... die Geschichte ... die Geschichte ...
    Großmutter starb im Herbst. Ich bin noch zu klein gewesen, um mir das genaue Datum zu merken. Es war windig damals, und ich bin mit Vater dort gewesen, denn die Ärzte hatten sorgfältig gerechnet – nicht nur auf den Tag, sondern auf einige Stunden genau. Sie lag auf einem mit schwarzem Stoff bedeckten Brett, ganz in Schwarz, schmal und still. Bevor sie in den Sarg gelegt wurde, küssten alle Verwandten sie auf die Stirn (wie es Brauch war). Vielleicht war ich zu klein, um den Tod zu verstehen. Aus Gewohnheit und von meinen Gefühlen geleitet, küsste ich sie auf den Mund, wie bei jeder Begrüßung zu Beginn der Ferien. Ich wunderte mich, dass sie so hart und unbewegt war und dass sie nicht mehr ihren warmen, vertrauten Geruch ausströmte.
    Die Angst kam später. In dem Moment, als ich draußen am Haus die schwarze Kirchenfahne mit dem silbernen Kreuz sah. Jemand hattesie so an der Hauswand angebracht, dass sie sich flatternd vom Hintergrund des blauen Himmels und der blattlosen Bäume abhob.
    Das war meine erste Lektion von der Dominanz des Symbols über die Wirklichkeit.
    Worauf zielt diese Erinnerung oder Erzählung ab?
    Bald werden die letzten Großmütter sterben, die die Welt der Geister mit eigenen Augen gesehen haben. Sie haben sie gläubig und ruhig betrachtet, natürlich auch mit Angst. Die lebendige, übernatürliche Wirklichkeit wird mit ihnen zusammen verschwinden. Die seltenen mystischen Erfahrungen Auserwählter ausgenommen, werden wir auf das anstrengende und schwierige Vertrauen in die Existenz des Ungewissen angewiesen sein. Die glattpolierte Oberfläche des Alltags wird uns unsere eigenen, flachen Spiegelbilder beflissen als Tiefe vorgaukeln.
    Meine Großmutter saß auf dem Bettrand und erzählte Geschichten. Sie tat es uneigennützig, ohne einen bestimmten Zweck zu verfolgen. Die Gewöhnlichkeit der ungewöhnlichen Ereignisse verlieh ihnen ihre Glaubwürdigkeit.
    Auf den Hof ging man durch einen großen dunklen Raum, der Speicher genannt wurde. Da hingen alte Geschirre, hinter einem Holzgatter lag das gedroschene und von der Spreu getrennte Getreide. Der scharfe Geruch des von Pferdeschweiß getränkten Leders mischte sich mit dem trockenen Duft des Korns. Durch eine kleine quadratische Öffnung in der Wand fiel
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