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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
Autoren: Marina Lewycka
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Hause.
    Ich war in der Ukraine. Ich habe die Plattenbauten gesehen und die toten Fische in den Flüssen.
    »Papa, die Ukraine ist nicht mehr so, wie du sie in Erinnerung hast. Sie hat sich verändert. Die Menschen haben sich verändert.
     Sie singen nicht mehr – höchstens, wenn sie betrunken sind. Und das Einzige, was sie wollen, ist einkaufen. Westwaren. Mode.
     Elektronik. Amerikanische Markenzeichen.«
    »Hmm. Das sagst
du
. Vielleicht hast du ja sogar Recht. Aber wenn ich ein so schönes Menschenwesen retten kann   …«
    Schon ist er wieder abgetaucht.
    Ein Problem gibt es trotzdem. Ihr Touristenvisum, erklärt er, läuft in drei Wochen ab.
    »Und vorher braucht sie noch die Scheidungsunterlagen von ihrem Mann.«
    »Heißt das etwa, sie ist schon verheiratet?«
    »Ihr Mann ist in der Ukraine. Intelligenter Typ übrigens. Direktor des Polytechnikums. Wir haben korrespondiert und auch miteinander
     telefoniert. Er hat gesagt, Valentina wird eine hervorragende Ehefrau abgeben.«
    Etwas Selbstgefälliges liegt in seiner Stimme. Der künftige Ex-Mann will die Scheidungsunterlagen an die ukrainische Botschaft
     in London faxen. In der Zwischenzeit soll mein Vater die zur Heirat nötigen Formalitäten klären.
    »Aber wenn ihr Visum in drei Wochen abläuft, dürfte es ziemlich knapp werden.« (Hoffe ich jedenfalls.)
    »Wenn sie jetzt zurückmuss, heiraten wir eben, sobald sie wieder da ist. Wir sind fest entschlossen.«
    |36| Jetzt ist aus dem »Ich« ein »Wir« geworden. Und mir wird klar, dass dieser Plan schon vor langer Zeit ausgeheckt wurde und
     dass ich erst im allerletzten Stadium das Glück hatte, davon zu erfahren. Wenn sie in die Ukraine zurückmuss, wird er ihr
     einen Brief schicken, und dann kann sie als seine Verlobte wiederkommen.
    »Aber Papa«, sage ich, »lies doch den Brief von dem Rechtsanwalt. Es kann gut sein, dass sie sie gar nicht wieder einreisen
     lassen. Gibt es denn nicht jemanden, der ein bisschen jünger ist als du, den sie heiraten kann?«
    Doch, erklärt mein Vater, diese findige junge Frau habe durchaus noch einen Alternativplan. Sie hat nämlich durch einen privaten
     Pflegedienst einen jungen Mann kennen gelernt, der nach einem Verkehrsunfall vollständig gelähmt ist. Ein – so Papa – sehr
     anständiger junger Mann aus guter Familie. Ehemaliger Lehrer. Valentina hat ihn gepflegt – gebadet, gefüttert, zur Toilette
     gebracht. Wenn sie nicht als Vaters Verlobte anerkannt wird, will sie sich als Au-pair für den jungen Mann einladen lassen.
     Solche Jobs fallen nicht unter die Einwanderungsbestimmungen. In dem Jahr, das sie als Au-pair im Land bleiben darf, wird
     der junge Mann sich in sie verlieben, und dann heiratet sie ihn. Auf diese Weise ist ihre Zukunft in diesem Land in jedem
     Fall gesichert. Allerdings wäre die arme Valentina damit zu lebenslänglichem Pflegedienst verurteilt, weil der junge Mann
     doch rund um die Uhr vollkommen auf sie angewiesen ist, wogegen er selbst, sagt Papa, ja nur wenig Hilfe braucht. All das
     weiß mein Vater, weil Valentina ihn zu dem jungen Mann mitgenommen und ihm alles gezeigt hat. »Du siehst ja«, sagte sie zu
     ihm, »wie es um ihn steht. Glaubst du wirklich, so jemanden kann ich heiraten?« (Natürlich sprachen sie Ukrainisch miteinander.)
     Nein, sagt Vater, solch ein Sklavenleben möchte er ihr ersparen. Deshalb wird er sich opfern und sie selbst heiraten.
    |37| Völlig gespalten bin ich jetzt, hin- und hergerissen zwischen Neugier und Angst. Und deshalb setze ich mich über zwei Jahre
     Verbitterung hinweg und rufe meine Schwester an.
     
    Vera ist kompromisslos, wo ich unentschieden liberal bin. Sie ist entschlossen, wo ich schwanke.
    »Mein Gott, Nadeshda, wieso hast du mir das denn nicht schon früher erzählt? Wir müssen sie ausschalten.«
    »Aber wenn sie ihn glücklich macht   …«
    »Sei nicht albern. Selbstverständlich wird sie ihn nicht glücklich machen. Man sieht doch, worauf sie aus ist. Wirklich, Nadeshda,
     dass du immer Partei für die Kriminellen ergreifen musst.«
    »Aber Vera   …«
    »Du musst sie unbedingt treffen und ihr klar machen, dass sie Leine ziehen soll.«
     
    Ich rufe bei Vater an. »Papa, kann ich nicht vorbeikommen und Valentina kennen lernen?«
    »Nein – nein, das ist völlig unmöglich.«
    »Warum ist das unmöglich?«
    Er zögert. So schnell fällt ihm keine Ausrede ein.
    »Sie spricht kein Englisch.«
    »Aber ich kann doch Ukrainisch.«
    »Sie ist sehr schüchtern.«
    »Klingt aber
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