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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
Autoren: Marina Lewycka
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späten Abends   – Anna war im Bett und Mike noch unterwegs – rief Vera mich an. Sie wollte eine Unterschrift von mir, um Geld abheben zu können
     für eine ihrer Töchter, die eine Wohnung kaufen wollte. Ich wusste, dass sie es war, |29| und ließ das Telefon ein ums andere Mal klingeln – »Geh nicht ran, geh nicht ran«, warnte mich eine innere Stimme   –, aber nach dem neunten Mal hob ich doch den Hörer ab, und dann brachen all die verletzenden Wahrheiten, die wir nie zuvor
     ausgesprochen hatten, hervor. Und einmal gesagt, konnten sie nicht mehr ungesagt gemacht werden.
    »Vera, du hast sie so lange gepiesackt, bis sie diese Verfügung unterschrieb. Und du hast ihr Medaillon gestohlen.« (Bin das
     wirklich ich, die ihrer Schwester so fürchterliche Dinge an den Kopf wirft?) »Mutter hatte uns beide gleich lieb. Sie wollte,
     dass wir das, was sie hinterlässt, gerecht teilen.«
    »Das ist doch lächerlich.« Eine Stimme wie Eis. »Das Medaillon konnte sie sowieso nur einer von uns geben. Und sie hat es
     eben mir gegeben. Weil ich da war, als sie mich brauchte. Ich war immer da, wenn sie mich brauchte. Aber du, ihr lieber kleiner
     Schatz, du hast sie im Stich gelassen, als es drauf ankam.« (Das tut weh. Dass sie so etwas zu ihrer kleinen Schwester sagen
     mag!) »Wie ich es von dir nicht anders erwartet habe.«
    Auf beiden Seiten die bewährte Angriff-ist-die-beste-Verteidigung-Strategie.
    »Mutter hat mich geliebt. Aber vor dir, Vera, hatte sie Angst. Alle hatten wir immer Angst vor dir, vor deinem Sarkasmus und
     vor deinen Wutausbrüchen. Jahrelang hast du mich herumkommandiert. Doch damit ist jetzt Schluss. Ich lasse mir von dir nichts
     mehr gefallen.« Damit sollte ich mich jetzt eigentlich wie eine erwachsene Frau fühlen – tu ich aber nicht. Ich komme mir
     vor, als wäre ich wieder vier Jahre alt.
    »Du bist einfach von der Bildfläche verschwunden, Nadeshda, wie du es ja schon dein ganzes Leben lang gemacht hast. Du und
     deine jämmerlichen politischen Spielchen, du willst die Kluge sein, die die Welt in Ordnung bringt, während |30| die anderen die Drecksarbeit machen dürfen. Du hast einfach nur zugeschaut, und an mir ist alles hängen geblieben.«
    »Du hast alles an dich gerissen.«
    »Irgendwer musste schließlich die Verantwortung übernehmen, und dieser Irgendwer warst du ganz offensichtlich nicht. Für Mutter
     hattest du doch keine Zeit – nein, du musstest ja an deine Karriere denken.«
    (Volltreffer. Das ist ein wunder Punkt. Ich habe ständig Schuldgefühle, dass ich nicht alles stehen und liegen ließ, um an
     Mutters Bett zu eilen. Jetzt hat sie mich in die Defensive gedrängt, aber ich greife sofort wieder an.)
    »Ach – du hast leicht reden!
Du
hast ja in deinem ganzen Leben noch keinen einzigen Tag gearbeitet. Hast dich von deinem Mann aushalten lassen.« (Zugegeben,
     das war unter der Gürtellinie.) »
Ich
musste mir immer mein Geld selbst verdienen. Ich habe Verpflichtungen. Mutter hat das sehr wohl verstanden. Sie hat gewusst,
     was es heißt, hart arbeiten zu müssen.«
    »Nur dass das, was sie gemacht hat, richtige Arbeit war, im Gegensatz zu dem, was du tust. Dieser ganze überflüssige sentimentale
     Gutmenschen-Quatsch, den du da abziehst. Wäre tausendmal sinnvoller, du würdest Gemüse anbauen.«
    »Du hast wirklich keine Ahnung, was Arbeit eigentlich ist, Vera. Du hattest doch immer deinen cleveren Dick im Rücken mit
     seinen Spesenabrechnungen und seinen Beteiligungen, seinen jährlichen Bonuszahlungen und seinen tausend Steuerspartricks.
     Und als es nicht mehr lief zwischen euch, hast du versucht, ihn noch mal ordentlich zu schröpfen. Mutter hat immer gesagt,
     sie versteht sehr gut, warum er sich von dir scheiden lassen wollte. Weil du so hässlich zu ihm warst.« (Ha! Der Punkt geht
     an mich!) »Deine eigene Mutter hat das gesagt!«
    |31| »Sie wusste nicht, was ich mitmachen musste.«
    »Sie wusste, was
er
mitmachen musste.«
    Unsere gesammelte Wut knistert und zischt durchs Telefon.
    »Das Schlimme an dir, Nadeshda, ist, dass du den Kopf so voller Unsinn hast, dass du einfach nicht mitkriegst, wie es in der
     richtigen Welt zugeht.«
    »Meine Güte, Vera, ich bin siebenundvierzig. Ich kenne die Welt sehr genau. Ich sehe sie nur anders als du.«
    »Siebenundvierzig oder nicht – du bist immer noch ein Kind. Und du wirst es ewig bleiben. Du hast immer alles geschenkt bekommen.«
    »Ich habe auch etwas zurückgegeben. Ich habe gearbeitet. Ich habe
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