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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
Autoren: Marina Lewycka
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versucht, anderen zu helfen. Mehr als du es jemals getan
     hast.« Das ist wieder die Vierjährige, die da ins Telefon plärrt.
    »Ach du lieber Himmel! Versucht, anderen zu helfen! Wie bist du doch großherzig!«
    »Na ja – jedenfalls großherziger als du. Du hast doch immer nur daran gedacht, wie du deine eigenen Schäfchen ins Trockene
     bringen kannst. Alles andere war dir doch verdammt egal.«
    »Ich musste lernen, an mich selbst zu denken. An mich und an meine Töchter. Wenn man selbst keine Not kennt, kann man sich
     leicht überlegen fühlen. Aber wenn du in der Falle sitzt, musst du dich freikämpfen.«
    (Bitte nicht das schon wieder! Muss sie denn immer noch auf diesen Kriegsgeschichten herumreiten?)
    »Was für eine Falle? Was für eine Not? Das war mal vor fünfzig Jahren, Vera! Schau dich doch bloß an – was für eine verbitterte
     neidische Schlange du geworden bist.« (Jetzt schalte ich auf meine »Sozialarbeiter«-Stimme um.) »Du musst endlich lernen,
     die Vergangenheit vergangen sein zu lassen.«
    |32| »Bleib mir bloß mit diesem New-Age-Hippie-Unsinn vom Leib. Lass uns einfach nur über das reden, was ansteht.«
    »Lieber spende ich das Geld für Oxfam, als dass ich mich von dir erpressen lasse, es herauszurücken.«
    »Oxfam! Wie rührend!«
    Mutters kleines Vermächtnis blieb also auf der Bank, und danach redeten meine Schwester und ich fast zwei Jahre lang nicht
     mehr miteinander. Bis ein gemeinsamer Feind uns wieder zusammenführte.

|33| 3.
Ein dickes braunes Kuvert
    »Der Brief vom Rechtsanwalt ist bei dir angekommen, Papa, oder?«
    »Hmm. Jaja.«
    Er ist offenbar nicht zum Plaudern aufgelegt.
    »Und was hältst du davon?«
    »Na ja, also   …« Er hustet. Seine Stimme klingt gequält. Er redet nicht gern am Telefon. »Also, ich habe ihn Valentina gezeigt.«
    »Und was hat sie gesagt?«
    »Was sie gesagt hat? Na ja   …« Wieder ein Husten. »Sie sagt, es ist nicht möglich, dass das Gesetz Mann und Frau voneinander trennt.«
    »Aber habt ihr denn den Brief nicht gelesen?«
    »Nein. Doch. Trotzdem – sie sagt das eben. Sie glaubt, dass es so ist.«
    »Was sie glaubt, ist aber nicht richtig, Papa. Es ist falsch.«
    »Hmm.«
    »Und was ist mit dir? Was sagst du dazu?« Ich bemühe mich, den Tonfall meiner Stimme unter Kontrolle zu behalten.
    »Na ja – was kann ich schon dazu sagen?« Ein kleines hilfloses Achselzucken klingt da durch, so als habe er sich einer Macht
     ergeben, auf die er keinen Einfluss hat.
    »Zum Beispiel könntest du sagen, du findest, dass die |34| Sache mit der Heirat vielleicht doch keine so gute Idee ist. Oder?«
    Mein Magen zieht sich zusammen, denn im selben Moment, als ich dies sage, wird mir klar, dass er tatsächlich vorhat, diese
     Geschichte durchzuziehen, und dass ich wohl oder übel damit werde leben müssen.
    »Ah. Ja. Nein.«
    »Was meinst du mit: ja – nein?« Irgendetwas steckt mir im Hals. Ich muss mich sehr anstrengen, meine Stimme weiterhin freundlich
     klingen zu lassen.
    »Dass ich das nicht sagen kann. Ich kann gar nichts sagen.«
    »Um Himmels willen, Papa   …«
    »Hör zu, Nadeshda, wir heiraten, und damit basta. Es gibt nichts weiter zu sagen.«
    Zwar habe ich das Gefühl, dass sich da etwas Schreckliches anbahnt, aber trotzdem entgeht mir nicht, dass Vater zum ersten
     Mal seit Mutters Tod wieder lebendig und energisch wirkt.
    Es ist nicht das erste Mal, dass er auf die Idee kommt, mittellose Ukrainer zu retten. Vor langer Zeit einmal hatte er den
     Plan gefasst, Familienmitglieder, die er seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gesehen hatte, aufzuspüren, um sie nach
     Peterborough zu holen. Er schrieb Rathäuser und Dorfpoststellen in der ganzen Ukraine an. Dutzende Antworten von nicht sehr
     glaubwürdig klingenden sogenannten Verwandten, die liebend gern sein Angebot annehmen wollten, trudelten bei uns ein. Mutter
     sprach ein Machtwort und beendete das Ganze.
    Jetzt sehe ich, wie er seine gesamte Energie auf ein neues Ziel konzentriert, auf diese Frau und ihren Sohn, die er zu seiner
     Ersatzfamilie machen will. Er kann mit ihnen in seiner Sprache sprechen. In dieser Sprache, die so wundervoll ist, dass jeder
     zum Dichter wird. Und diese Landschaft   … |35| eine solche Landschaft muss einen doch zum Künstler machen. Blau angestrichene Holzhäuser, goldene Kornfelder, Silberbirkenwälder,
     breite, ruhige Flüsse. Nun braucht er gar nicht mehr selbst in die Ukraine zurückzufahren, die Ukraine kommt zu ihm nach
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