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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
Autoren: Marina Lewycka
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die Himbeeren,
     Erdbeeren, Loganbeeren, Roten und Schwarzen Johannisbeeren und der Kirschbaum mit einem Netz, das mein Vater über Holzrahmen
     gehängt hat, vor den gefräßigen fetten Vögeln geschützt. Ein paar Erdbeeren und Himbeeren haben ihre Arme durch die Maschen
     gesteckt und wuchern zu den Blumen hinüber.
    Es gibt ein Gewächshaus, in dem sich über Tomaten- und Paprikabeeten ein Weinstock mit blauen Trauben ausbreitet. Hinter dem
     Gewächshaus steht eine Regentonne. Es gibt auch zwei kleine Schuppen, einen Komposthaufen und einen Dunghaufen, auf den das
     ganze Dorf neidisch herüberschielt – das Geschenk eines anderen ukrainischen Gärtners: üppiger, krumiger, gut verrotteter
     Kuhmist. »Dunkle Schokolade« sagte meine Mutter dazu. »Da, meine Süßen«, flüsterte sie oft ihren Kürbissen zu, »da habt ihr
     noch ein bisschen Schokolade.« Und sie futterten sie weg und wuchsen und wuchsen und wuchsen.
    Jedes Mal, wenn mein Vater in den Garten hinausgeht, sieht er Mutters Gestalt vor sich, wie sie sich über die Kürbisse beugt
     oder sich streckt, um die Stangenbohnen zu befestigen, oder wie sie, einem Schemen gleich, im Gewächshaus hantiert. Manchmal
     lockt ihn ihre Stimme in dem leeren Haus von Zimmer zu Zimmer. Und jedes Mal, wenn ihm dann wieder bewusst wird, dass sie
     ja nicht mehr da ist, bricht die Wunde erneut auf.
     
    Der zweite Anruf kam einige Tage später.
    »Sag mal, Nadeshda, was glaubst du: Kann man mit vierundachtzig noch Vater werden?«
    Um den heißen Brei herumreden ist nicht seine Sache. |21| Kein höflicher Smalltalk, kein »Wie geht es dir? Was machen Mike und Anna?«, kein Plausch übers Wetter. Reine Zeitverschwendung.
     Er wird sich doch nicht mit Banalitäten aufhalten, wenn es um seine fixe Idee geht.
    »Also   … ich weiß nicht   …«
    Wieso fragt er mich das? Woher soll ich das denn wissen? Ich
will
es gar nicht wissen. Ich will nicht emotional in diese Rotznasenzeiten zurück, als Vater noch mein großer Held war und ich
     mich auf den Kopf gestellt hätte, nur um ihm zu gefallen.
    »Und wenn ja, Nadeshda«, redet er schon weiter, bevor ich mich überhaupt gegen ihn wappnen kann, »wie hoch, glaubst du, ist
     das Risiko, dass das Kind geistig behindert ist?«
    »Na ja, Papa« – durchatmen, ganz ruhig bleiben, ganz verständnisvoll   –, »man weiß ja inzwischen, dass die Chance, ein Baby mit Down-Syndrom zu bekommen, umso größer wird, je älter eine Frau ist.
     Unter Down-Syndrom versteht man eine Chromosomenstörung   … früher nannte man das Mongolismus.«
    »Hmm.« (Das hört er nicht gern.) »Hmm. Aber vielleicht sollten wir es doch probieren. Weißt du, ich denke, wenn sie mit einem
     Briten verheiratet ist und außerdem ein Kind mit britischer Staatsangehörigkeit hat, können sie sie doch bestimmt nicht ausweisen   …«
    »Papa, ich finde, du solltest dich da nicht so   …«
    »Weil die britische Gerichtsbarkeit die beste auf der ganzen Welt ist. Das ist ihr historischer Auftrag und, so könnte man
     sagen, zugleich auch ihre Bürde   …«
    Er redet Englisch mit mir, wie immer, ein seltsam überakzentuiertes, eigenwilliges, aber sehr funktionales Englisch. Ingenieurs-Sprache.
     Meine Mutter hat Ukrainisch mit mir gesprochen, mit unzähligen Varianten zärtlicher Diminutive. Muttersprache.
    |22| »Papa, sei mal einen Moment still und denk nach: Bist du sicher, dass du das wirklich willst?«
    »Hmm. Was will ich?« (Klingt wie »fass fill ich?«.) »Natürlich, ein Kind zu zeugen   … Rein technisch gesehen mag es ja möglich sein   …«
    Beim Gedanken daran, dass Vater mit dieser Frau Sex hat, dreht sich mir der Magen um.
    »Problem ist nur, dass mein hydraulisches System nicht mehr so richtig funktioniert   … Aber mit Valentina, vielleicht   …« Einerseits – andererseits   … für meinen Geschmack müsste er dieses Zeugungs-Szenario nicht so auswalzen. »…   was meinst du?«
    »Papa, ich habe keine Ahnung.«
    Ich möchte bloß, dass er endlich aufhört.
    »Ja – ich glaube, mit Valentina könnte es gehen   …«
    Seine Stimme klingt verträumt. Jetzt denkt er wohl an das Kind, das er zeugen wird. Einen Jungen natürlich. Dem er beibringen
     kann, wie sich Pythagoras beweisen lässt und was das Schöne am Konstruktivismus ist. Mit dem er über Traktoren reden kann.
     Es war ja immer sein großer Kummer, dass seine Kinder nur Mädchen geworden sind. Intellektuell beschränkt, und dabei trotzdem
     nicht so kokett und
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