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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
Autoren: Marina Lewycka
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Nachbarstochter am Gartentor
     mit ihrem Freund. Drinnen im fahlen, sauberen Zimmer meine Mutter, die nach Atem rang, während das Leben von Stunde zu Stunde
     mehr aus ihr wich, und ich, die ihr löffelweise Morphium einflößte.
    Für den Tod ist alles in Gummi gerüstet: Gummihandschuhe an den Händen der Krankenschwester, eine wasserdichte Gummiunterlage
     auf dem Bett, Gummisohlen an den Schuhen, Glyzerin-Suppositorien, die wie goldene Geschosse glänzen, und der Nachtstuhl mit
     den Gummipfropfen an den Füßen, der jetzt mit einer grünlichen Flüssigkeit gefüllt ist.
    »Weißt du noch, damals   …?« Immer und immer wieder erzähle ich die Geschichten von ihr und uns in unserer Kindheit.
    Ihre Augen flackern dunkel. Ihre Hand in meiner Hand, sagt sie in einem lichten Moment: »Kümmere dich um Nikolai, den armen
     Kolja.«
    Er war bei ihr in der Nacht, als sie starb. Ich habe noch im Ohr, wie er aufbrüllte in seinem Schmerz. »Mich auch! Nimm mich
     auch mit!« Heiser würgend die Stimme; der ganze Körper starr, wie im Krampf zusammengezogen.
    |13| Am Vormittag, als sie ihre Leiche abgeholt hatten, saß er völlig abwesend im hinteren Zimmer. Irgendwann sagte er: »Nadeshda,
     weißt du eigentlich, dass es außer dem mathematischen Beweis für den Satz des Pythagoras auch noch einen geometrischen gibt?
     Schau, wie schön der aussieht.«
    Er zeichnete Linien und Winkel auf ein Blatt Papier, schrieb kleine Symbole daneben und murmelte die Gleichung vor sich hin.
    Er ist völlig von der Rolle, dachte ich. Der arme Kolja.
     
    In den Wochen vor ihrem Tod, als sie in den Kissen ihres Krankenhausbetts lag, hatte Mutter sich Sorgen gemacht. Verdrahtet
     mit einem Monitor, der ihre kläglichen Herztöne aufzeichnete, klagte sie über die gemischte Belegung der Station, wo nur flüchtig
     vorgezogene Vorhänge die Kranken voneinander abschirmten, und über das aufdringliche Keuchen, Husten und Schnarchen der alten
     Männer. Sie zuckte zurück, wenn der Pfleger mit seinen dicken Fingern unbekümmert ihr Krankenhausnachthemd über den eingesunkenen
     Brüsten öffnete, um die Drähte festzukleben. Sie war nichts als eine kranke alte Frau. Wen interessierte schon, was sie dachte?
    Das Leben abzugeben ist schwerer, als du denkst, sagte sie.
    So viel, worum man sich noch kümmern muss, bevor man in Frieden gehen kann. Kolja zum Beispiel – wer sorgt für Kolja? Die
     Töchter doch sicherlich nicht – kluge Mädchen, alle beide, aber so streitsüchtig. Und was wird aus ihnen? Ob sie glücklich
     werden? Ob diese netten, nichtsnutzigen Männer, bei denen sie gelandet sind, sie gut versorgen? Und die drei Enkelinnen –
     alle so hübsche Mädchen, aber keine unter der Haube.
    Es wäre noch so viel zu regeln gewesen, doch sie hatte keine Kraft mehr dazu.
    |14| Im Krankenhaus verfasste Mutter ihr Testament, und meine Schwester Vera und ich passten genau auf, was sie schrieb, weil keine
     von uns der anderen über den Weg traute. Mutter schrieb alles in ihrer krakeligen Handschrift nieder, und zwei Krankenschwestern
     unterzeichneten als Zeuginnen. Sie, die so viele Jahre lang stark gewesen war, war jetzt schwach. Sie war alt und krank, aber
     das, was sie ein Leben lang zurückgelegt und zusammengespart hatte, befand sich quicklebendig bei der Coop-Bank.
    Eines stand für sie fest: Papa sollte es nicht haben.
    »Nikolai kann nicht rechnen. Der Arme steckt voller verrückter Ideen. Wir teilen das lieber unter euch auf, jede die Hälfte.«
    Sie redete in ihrer ganz persönlichen Do-it-yourself-Sprache, ihrem mit neuen Wortschöpfungen angereicherten Ukrainisch à
     la
Küchenmixera
,
Schürzenbandu
,
Gärtnereiskij
.
     
    Als eindeutig war, dass man im Krankenhaus nichts mehr für sie tun konnte, wurde sie nach Hause entlassen, um dort in Ruhe
     sterben zu können. Meine Schwester verbrachte den Großteil dieses letzten Monats bei ihr. Ich kam über die Wochenenden. Irgendwann
     in dieser Zeit, als ich nicht da war, geschah es, dass meine Schwester eine Verfügung aufsetzte, derzufolge Mutters Geld zu
     gleichen Teilen an die drei Enkelinnen – meine Anna und Veras Alice und Alexandra – gehen sollte, nicht mehr halbe-halbe an
     mich und sie. Mutter unterschrieb, zwei Nachbarn fungierten als Zeugen.
    »Mach dir keine Sorgen mehr«, sagte ich zu Mutter, bevor sie starb, »es wird schon alles gut gehen. Wir werden traurig sein
     und du wirst uns sehr fehlen, aber wir kommen schon zurecht.«
    Wir kamen aber nicht
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