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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
Autoren: Marina Lewycka
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können wir, wenn Valentina kommt,
     alle zusammen Tee trinken.« Fröhliche vernünftige Stimme. Englischer Tonfall. Schafft ein wenig Abstand zwischen mir und diesem
     quälenden Schwachsinn.
     
    Auf dem Rückweg fahre ich an dem Pflegeheim, wo Valentina arbeitet, vorbei. Es ist dasselbe Pflegeheim, in dem meine Mutter
     kurze Zeit untergebracht war, bevor sie starb, und ich kenne mich hier aus. Ich stelle den Wagen |43| draußen auf der Straße ab und gehe dann, anstatt durch die Eingangstür, seitlich am Gebäude entlang, um durchs Küchenfenster
     zu gucken. Am Herd steht eine dicke Frau mittleren Alters und rührt in einem Topf. Ob sie das ist? Neben der Küche befindet
     sich der Speisesaal, in dem sich gerade die Bewohner zum Tee einfinden. Einige werden von gelangweilt wirkenden, mit Latzhosen
     bekleideten Teenagern in Rollstühlen geschoben, andere mit ihren Tabletts sind zu weit weg, als dass ich sie genau sehen könnte.
     Durch den Vordereingang kommen jetzt einige Personen heraus, die zur Bushaltestelle gehen. Sind das Angestellte oder Besucher?
     Was will ich hier eigentlich? Ich suche jemanden, auf den Vaters Beschreibung passt, eine wunderschöne Blondine mit riesigem
     Busen. So jemanden gibt es hier nicht.
    Als ich heimkomme, wirkt Vater bekümmert. Valentina hat angerufen und erklärt, dass sie heute nicht mehr vorbeikommt. Sie
     will sofort nach Hause. Morgen fährt sie in die Ukraine zurück. Er muss sie aber vorher unbedingt noch einmal sehen. Er muss
     ihr sein Geschenk geben.
    Das Kuvert ist nicht zugeklebt, und ich kann sehen, dass mehrere mit seiner krakeligen Handschrift beschriebene Blätter Papier
     darin stecken. Und Geldscheine. Wie viele es sind, kann ich nicht sehen. Ich merke, dass ich anfange, innerlich zu kochen.
     Ich sehe rot.
    »Wieso willst du ihr Geld geben, Papa? Deine Rente reicht doch kaum für dich selbst.«
    »Das geht dich nichts an, Nadeshda, überhaupt nichts. Wieso regst du dich so darüber auf, was ich mit meinem Geld mache? Hast
     du etwa Angst, dass für dich nichts mehr übrig bleibt?«
    »Papa, begreifst du denn nicht, dass sie dich nur reinlegen will? Ich finde, du solltest zur Polizei gehen.«
    Er ringt nach Atem. Er fürchtet sich vor der Polizei, er |44| fürchtet sich vor der Gemeindeverwaltung, er fürchtet sich sogar vor dem uniformierten Briefträger, der jeden Tag an seine
     Haustür kommt. Ich habe ihm Angst eingejagt.
    »Warum bist du so grausam, Nadeshda? Was für ein hartherziges Ungeheuer habe ich da großgezogen. Geh – du verlässt auf der
     Stelle mein Haus! Ich will« (»fill«) »dich nicht mehr sehen, nie mehr! Du bist nicht mehr meine Tochter!«
    Und nun fängt er auch noch an zu husten. Seine Pupillen weiten sich. Speichel rinnt ihm aus dem Mund.
    »Ach, Papa, werd doch nicht gleich so melodramatisch. Dasselbe hast du mir schon einmal gesagt – weißt du noch? Als ich noch
     zur Schule ging und du fandest, ich sei zu links.«
    »Sogar Lenin hat geschrieben, dass linker Kommunismus kindisch ist.« (Husten.) »Kindisch und wirr.«
    »Du hast behauptet, ich sei Trotzkistin. Und du hast gesagt: ›Raus hier – du verlässt auf der Stelle mein Haus! Ich will dich
     nicht mehr sehen!‹ Aber schau, ich bin immer noch da. Ich lasse mir immer noch deinen Schwachsinn gefallen.«
    »Du
warst
Trotzkistin. Alle wart ihr Trotzkisten, ihr revolutionären Studenten mit euren dummen Fahnen und Spruchbändern. Weißt du,
     was Trotzki getan hat? Weißt du, wie viele Menschen er umgebracht hat? Und auf welche Weise? Weißt du das? Trotzki war ein
     Monster, er war noch schlimmer als Lenin. Schlimmer als Vera.«
    »Papa, sogar wenn ich Trotzkistin gewesen wäre, was ich
nicht
war – es war nicht besonders nett, so etwas zu deiner Tochter zu sagen.«
    Es ist jetzt dreißig Jahre her, aber ich erinnere mich noch genau, wie geschockt ich war, wie verletzt – ich, die bis dahin
     fest davon überzeugt gewesen war, dass meine Eltern mich bedingungslos und ohne jede Einschränkung liebten. Aber eigentlich
     ging es dabei gar nicht um Politik, sondern um Macht. Es ging darum, dass er seinen Willen gegen den |45| meinen durchsetzen wollte. Es ging um sein Recht, mir, der Tochter, Befehle zu erteilen.
    Mike schaltet sich ein. »Also, Nikolai, ich bin sicher, du hast das nicht so gemeint. Und Nadeshda – es ist wirklich nicht
     nötig, diese alten Dinge noch mal aufzuwärmen. Setzt euch her, alle beide, und lasst uns in Ruhe miteinander reden.«
    So etwas kann
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