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Kurz vor Mitternacht

Kurz vor Mitternacht

Titel: Kurz vor Mitternacht
Autoren: Agatha Christie
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uns… sie rief uns alle möglichen Wörter zu, und wir mussten antworten, was uns gerade einfiel dazu…»
    Battle knurrte missbilligend.
    «Und ich begriff, was das zu bedeuten hatte, und… und… da war ich plötzlich wie gelähmt. Ich bemühte mich, kein verkehrtes Wort zu sagen, versuchte, an ganz andere Dinge zu denken… an Blumen und dergleichen… und Amp beobachtete mich mit Argusaugen. Und danach… oh, es wurde immer schlimmer, und eines Tages sprach Amp sehr lieb mit mir, so… so verständnisvoll… und da war es aus mit mir, und ich sagte ganz einfach, ich hätte es getan, und… ach, Papa, die Erleichterung!»
    Battle rieb sich das Kinn.
    «Ich verstehe.»
    «Wirklich?»
    «Nein, Sylvia, ich verstehe dich eigentlich nicht, weil ich anders geartet bin. Wenn mich jemand zu Unrecht beschuldigen würde, so hätte ich nur das Verlangen, dem Betreffenden eine Ohrfeige zu geben. Aber ich verstehe, wie sich die Sache zutrug, und deine Amp mit den Argusaugen hat das schönste Beispiel dafür geliefert, was geschieht, wenn die so genannte Psychologie falsch angewendet wird. Jetzt gilt es, das Durcheinander wieder in Ordnung zu bringen. Wo ist Miss Amphrey?»
    Miss Amphrey hielt sich taktvollerweise in der Nähe auf. Das mitfühlende Lächeln gefror auf ihrem Antlitz, als Inspektor Battle unumwunden erklärte: «Um meiner Tochter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muss ich Sie bitten, diesen Fall der Lokalpresse zu überantworten.»
    «Aber Mr Battle, Sylvia hat selber…»
    «Sylvia hat in diesem Haus keinen einzigen Gegenstand angerührt, der ihr nicht gehört.»
    «Ich begreife durchaus, dass Sie als Vater…»
    «Ich spreche nicht als Vater, sondern als Polizeibeamter. Beauftragen Sie die Polizei mit der Untersuchung des Falles. Man wird die entwendeten Gegenstände irgendwo versteckt finden, und sie werden wohl die richtigen Fingerabdrücke tragen. Jugendliche Diebe pflegen keine Handschuhe anzuhaben. Ich nehme meine Tochter jetzt mit. Sollte die Polizei einen Beweis für ihre Schuld finden – einen tatsächlichen Beweis –, so bin ich bereit, mit ihr vor Gericht zu erscheinen, aber das wird wohl kaum nötig sein.»
    Als er dann mit Sylvia zum Tor hinausfuhr, fragte er seine Tochter: «Wer ist das Mädchen mit dem blonden Lockenkopf und den blauen Augen, das am Kinn ein Muttermal hat? Ich sah es im Korridor.»
    «Das wird wohl Olive Parsons gewesen sein.»
    «Na, es würde mich nicht überraschen, wenn das die kleine Diebin wäre.»
    «Hat sie ängstlich ausgesehen?»
    «Nein, herausfordernd. Den gleichen ruhigen, herausfordernden Blick habe ich schon hundertmal im Gerichtssaal beobachtet! Ich wette, dass sie die Diebstähle begangen hat, aber sie wird wohl nicht so bald gestehen.»
    Sylvia bemerkte mit einem Seufzer: «Mir ist, als wäre ich aus einem schlimmen Traum erwacht. Oh, Papa, es tut mir ja so leid! Wie konnte ich nur so dumm sein?»
    «Na, lass nur», erwiderte Inspektor Battle. «Mach dir keine Gedanken. Durch solche Dinge sollen wir auf die Probe gestellt werden. Wenigstens wüsste ich keinen anderen Grund, warum das geschehen ist…»

5
19. April
    Die Sonne ergoss ihr Licht auf Nevile Stranges Haus in Hindhead.
    Nevile Strange kam die Treppe herunter. Er war in weißen Flanell gekleidet und trug vier Tennisrackets unter dem Arm. Hätte unter zahlreichen Engländern das Beispiel eines glücklichen Mannes, dem nichts zu wünschen übrigblieb, ausgesucht werden sollen, so wäre die Wahl wohl auf Nevile Strange gefallen. In der Öffentlichkeit kannte man ihn als erstklassigen Tennisspieler und auf allen Gebieten bewanderten Sportsmann. Er zeichnete sich beim Golf aus, war ein guter Schwimmer und hatte verschiedene Berge bestiegen. Er zählte dreiunddreißig Jahre, strotzte vor Gesundheit, sah blendend aus, hatte viel Geld, eine außergewöhnlich schöne Frau, der er vor Jahresfrist angetraut worden war, und wusste anscheinend nicht im geringsten, was Sorgen und Leid bedeuten.
    Trotzdem wurde Nevile Strange an diesem schönen Morgen, als er die Treppe hinunterging, von einem Schatten begleitet. Von einem Schatten, den vielleicht kein anderes Auge wahrzunehmen vermochte. Er aber gewahrte ihn, und der Gedanke daran ließ ihn die Stirn runzeln.
    Er durchquerte die Halle, straffte die Schultern, als ob er entschlossen eine Last abschüttelte, schritt durch das Wohnzimmer und betrat die Veranda, wo seine Frau, Kay, zwischen Kisten kauerte und Orangensaft trank.
    Kay war dreiundzwanzig Jahre alt
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