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Kurz vor Mitternacht

Kurz vor Mitternacht

Titel: Kurz vor Mitternacht
Autoren: Agatha Christie
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weiß. Ich möchte nur gern hören, wieso Sie sie überhaupt verdächtigt haben.»
    «Nun, Mr Battle, es kamen immer mehr Gegenstände aus den Schränken der Mädchen abhanden. Ich rief die Schülerinnen zusammen und teilte ihnen die Tatsachen mit. Dabei beobachtete ich unauffällig ihre Gesichter. Sylvias Ausdruck fiel mir sofort auf. Ihre Miene zeigte Schuldbewusstsein und Verwirrung. Da wusste ich, wer die Diebin war. Ich wollte sie nicht beschuldigen, sondern ich wünschte, dass sie selber gestand. Ich stellte eine kleine Prüfung mit ihr an – eine Wortassoziations-Prüfung.»
    Battle nickte, um zu zeigen, dass er begriff.
    «Und schließlich gab das Kind alles zu.»
    «Ich verstehe», sagte Sylvias Vater.
    Miss Amphrey zögerte einen Moment, dann ging sie hinaus.
    Battle stand am Fenster und blickte in den Garten, als die Tür sich wieder öffnete. Er drehte sich um und betrachtete seine Tochter.
    Sylvia lehnte an der Tür, die sie hinter sich geschlossen hatte. Sie war groß, dunkel, eckig. Sie zeigte eine düstere Miene, und ihr Aussehen verriet, dass sie geweint hatte. Eher scheu als trotzig sagte sie: «So, da bin ich.»
    Nachdenklich musterte Battle sie. Er seufzte.
    «Ich hätte dich niemals hierher schicken sollen», bemerkte er. «Diese Frau ist eine Närrin.»
    Vor lauter Erstaunen vergaß Sylvia ihre eigenen Probleme. «Miss Amphrey? Oh, sie ist wundervoll! Das finden wir alle.»
    «Hm», sagte er. «Wenn sie diesen Eindruck erweckt, kann sie doch keine völlige Närrin sein. Trotzdem ist das nicht der richtige Ort für dich, obwohl… na, das hätte ja auch woanders geschehen können.»
    Sylvia schlang die Hände ineinander und blickte zu Boden.
    «Es tut mir leid, Vater.»
    «Das will ich hoffen. Komm her, mein Kind.»
    Zögernd ging sie auf ihn zu. Er legte ihr die Hand unters Kinn, hob ihren Kopf hoch und sah ihr fest in die Augen.
    «Allerhand durchgemacht, was?», fragte er liebevoll.
    Tränen sammelten sich in ihren Augen.
    Er sagte langsam: «Versteh, Sylvia, ich weiß längst, dass du es mit dir nicht leicht hast. Die meisten Menschen haben irgendeine Schwäche. Gewöhnlich liegt sie offen zu Tage. Man sieht deutlich, wenn ein Kind habgierig oder bösartig veranlagt ist. Du warst ein gutes Kind, sehr ruhig, sehr sanft – machtest nicht die geringsten Schwierigkeiten, und bisweilen stimmte mich das besorgt. Denn wenn eine brüchige Stelle da ist, die man nicht erkennt, kann alles verdorben werden.»
    «Wie bei mir», nickte Sylvia.
    «Ja, wie bei dir. Du bist unter dem Druck zerbrochen, und zwar auf höchst sonderbare Weise. Komisch, noch nie ist mir so ein Fall vorgekommen.»
    Finster und zornig sagte das Mädchen: «Man sollte meinen, dass du oft genug mit Dieben zu tun hast!»
    «O ja – ich weiß genau Bescheid über sie. Und darum, meine Liebe, weiß ich – nicht weil ich dein Vater bin, Väter wissen manchmal sehr wenig von ihren Kindern –, sondern weiß ich als Polizeimann recht gut, dass du keine Diebin bist! Du hast nicht einen einzigen Gegenstand hier im Haus an dich genommen. Du gehörst keiner der verschiedenen Diebeskategorien an. Hingegen einer sehr ungewöhnlichen Kategorie von Lügnern.»
    «Aber…»
    Er fuhr fort: «Du hast alles gestanden? O ja, das ist mir wohl bekannt. Es war einmal eine Heilige, die den Armen Brot bringen wollte. Ihr Mann schätzte das nicht. Er traf sie und fragte sie, was sie da in ihrem Korb habe. Sie verlor die Nerven und antwortete, es seien Rosen darin. Er öffnete den Korb, und da lagen Rosen vor seinen Augen – ein Wunder! Wenn du an der Stelle der heiligen Elisabeth gewesen und mit einem Korb voll Rosen ausgegangen wärst, und wenn dann dein Mann dich gefragt hätte, was in dem Korb sei, so hättest du die Nerven verloren und geantwortet: ‹Brot›.»
    Er machte eine Pause, dann erkundigte er sich freundlich: «So hat es sich doch zugetragen, nicht wahr?»
    Das Mädchen ließ den Kopf sinken.
    «Erzähl mir, mein Kind. Wie hat sich das Ganze abgespielt?»
    «Sie rief uns alle zusammen. Hielt eine Rede. Und ich sah ihre Augen auf mich gerichtet, und ich wusste, dass sie dachte, ich sei es gewesen! Ich fühlte, wie ich rot wurde, und ich merkte, dass einige Mädchen mich anstarrten. Es war grässlich. Und dann begannen auch die übrigen mich anzustieren und miteinander zu flüstern. Ich wusste ganz genau, dass alle dasselbe dachten. Und dann ließ Amp mich eines Abends mit ein paar andern zu sich kommen und spielte so ein Wortspiel mit
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