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Kurz vor Mitternacht

Kurz vor Mitternacht

Titel: Kurz vor Mitternacht
Autoren: Agatha Christie
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der Ort, das Verfahren, das Opfer…
    Der Mensch hob den Kopf. Er nahm die beschriebenen Bogen auf und las sie aufmerksam durch. Ja, alles war kristallklar. Er holte tief Atem. Nur etwas fehlte noch.
    Mit einem Lächeln schrieb der Mensch das Datum nieder – einen Tag im September.
    Lachend zerriss er dann die Bogen, trug die Fetzen zum Kamin und warf sie ins Feuer. Nachlässigkeit gab es nicht. Jeder einzelne Papierfetzen wurde vernichtet. Der Plan existierte jetzt nur noch im Kopf seines Schöpfers.

4
8. März
    I nspektor Battle saß am Frühstückstisch. Mit undurchdringlicher Miene las er einen Brief, den seine Frau ihm soeben mit Tränen in den Augen ausgehändigt hatte. Sein Gesicht zeigte nie einen Ausdruck; wie aus Holz geschnitzt wirkte es.
    «Ich kann es nicht glauben», schluchzte Mrs Battle. «Sylvia!»
    Sylvia war das jüngste ihrer fünf Kinder. Sie zählte sechzehn Jahre und lebte in einem Internat in der Nähe von Maidstone. Der Brief stammte von Miss Amphrey, der Schulleiterin. Es war ein deutlicher, freundlicher und außerordentlich taktvoller Brief. Schwarz auf weiß stand darin, dass eine Zeit lang verschiedene kleine Diebstähle die Schulbehörde in Verlegenheit gebracht hätten, und dass der Tatbestand schließlich aufgeklärt worden sei: Sylvia Battle hatte gestanden, und Miss Amphrey wollte Mr oder Mrs Battle möglichst bald sehen, um «die Lage zu besprechen».
    Der Inspektor faltete den Brief zusammen, steckte ihn in die Tasche und bemerkte: «Das wirst du mir überlassen, Mary.»
    Er erhob sich, ging um den Tisch herum, tätschelte ihre Wange und sagte: «Sei nicht traurig, Liebes, es wird schon alles in Ordnung kommen.»
    Am Nachmittag des gleichen Tages saß Inspektor Battle sehr aufrecht in Miss Amphreys modern und eigenwillig ausgestattetem Salon, die großen Hände über den Knien gefaltet, und brachte es fertig, in Gegenwart der Schulleiterin noch mehr als gewöhnlich jeder Zoll ein Polizeimann zu sein.
    Miss Amphrey konnte sich rühmen, mit ihrem Internat großen Erfolg zu haben. Sie war eine starke Persönlichkeit und setzte auf moderne Erziehungsmethoden. Ihre blauen Augen blickten durch dicke Brillengläser.
    «Es ist wichtig», sagte sie mit ihrer klaren, wohl lautenden Stimme, «dass diese Angelegenheit richtig behandelt wird. Vor allem müssen wir an das Mädchen denken, Mr Battle. Es ist sehr, sehr wichtig, dass Sylvias Seele keinen Schaden nimmt. Sie darf nicht einfach nur mit einem Schuldgefühl belastet werden, sondern wir müssen den Grund herausfinden, der hinter all dem steckt. Vielleicht ein Minderwertigkeitsgefühl? Im Sport zeichnet sie sich nicht gerade aus, wie Sie wissen – vielleicht hegte sie im geheimen den Wunsch, auf anderem Gebiet zu glänzen? Wir müssen sehr, sehr behutsam vorgehen. Deshalb wollte ich Sie zuerst allein sprechen – damit Sie auch wirklich behutsam mit Sylvia umgehen. Ich wiederhole: Es ist sehr, sehr wichtig, dass wir den Grund erfahren.»
    «Deshalb bin ich gekommen, Miss Amphrey.»
    «Ich war sehr freundlich zu ihr», betonte Miss Amphrey.
    «Nett von Ihnen», erwiderte er lakonisch.
    «Sie müssen wissen, ich liebe und verstehe diese jungen Geschöpfe.»
    Er gab darauf keine Antwort, sondern sagte nur: «Jetzt würde ich meine Tochter gern sehen, wenn Sie nichts dagegen haben, Miss Amphrey.»
    Mit besonderem Nachdruck ermahnte Miss Amphrey ihn nochmals, ja recht behutsam vorzugehen.
    Inspektor Battle zeigte kein Zeichen der Ungeduld. Er sah völlig ausdruckslos aus.
    Endlich führte sie ihn in ihr Arbeitszimmer. Im Korridor kamen sie an einigen Mädchen vorbei, die höflich knicksten, deren Augen jedoch Neugier verrieten. In dem kleinen Raum, der ganz unpersönlich ausgestattet war, angekommen, wollte die Schulleiterin sogleich wieder forteilen, um Sylvia zu holen, aber Battle hielt sie zurück.
    «Einen Augenblick noch, Miss Amphrey… Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, in Sylvia die Schuldige für diese… äh… kleinen Diebereien zu erkennen?»
    «Mein Verfahren war psychologischer Natur, Mr Battle.»
    Sie sprach mit Würde.
    «Psychologischer Natur? Hm. Und wie steht’s mit den Beweisen, Miss Amphrey?»
    «Oh, ich verstehe durchaus, dass Sie die Sache so sehen, Mr Battle. Ihr Beruf bringt das mit sich. Aber allmählich erobert sich die Psychologie auch in der Kriminologie ihren Platz. Ich kann Ihnen versichern, dass mir kein Irrtum unterlaufen ist – Sylvia hat selber alles zugegeben.»
    Battle nickte.
    «Ja, ja, ich
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