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Kurz vor Mitternacht

Kurz vor Mitternacht

Titel: Kurz vor Mitternacht
Autoren: Agatha Christie
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Nummer achtzehn schöngetan hätte, wäre er auf seiner Runde nicht zu spät gewesen…»
    Treves nickte bedeutsam mit dem Kopf.
    «Alles trieb auf einen bestimmten Punkt zu. Und dann, wenn die Zeit gekommen ist, schlägt der Blitz ein.»
    Er schauderte.
    «Sie frieren, rücken Sie näher ans Feuer.»
    «Nein, nein», wehrte Treves ab. «Es ist nur jemand über mein Grab gegangen, wie man zu sagen pflegt. Nun, ich muss mich langsam auf den Heimweg machen.»
    Er nickte allen liebenswürdig zu und verließ langsam das Zimmer.
    Eine Weile herrschte Schweigen, dann sagte Richter Cleaver: «Ein kluger Kopf, ein sehr kluger Kopf, aber die Jahre machen sich doch langsam bemerkbar.»
    «Mit seinem Herzen soll es gar nicht gut stehen», fiel Kronanwalt Lord ein. «Jede Minute kann es mit ihm zu Ende sein, glaube ich.»
    «Er nimmt sich sehr in Acht», entgegnete der junge Lewis.
    Unterdessen kletterte der alte Treves behutsam in seinen Daimler, der ihn in gemächlicher Fahrt zu seinem Haus brachte, das in einer ruhigen Gegend lag. Ein besorgter Diener half ihm aus dem Mantel. Treves begab sich in seine Studierstube, wo ein Kohlenfeuer brannte.
    Er ließ sich vor dem Fenster nieder und griff nach einigen Briefen. Seine Gedanken weilten noch immer bei dem Thema, das er im Club angeschnitten hatte.
    «Auch jetzt», sagte er zu sich, «bereitet sich ein Drama – ein Mord – vor. Wenn ich Kriminalschriftsteller wäre, würde ich meine Geschichte mit einem alten Herrn anfangen, der am Feuer sitzt und seine Briefe öffnet, und der, ohne es zu ahnen, auf die Stelle zugeht, wo der Blitz einschlagen wird…»
    Er schnitt einen Umschlag auf und ließ geistesabwesend den Blick über den Briefbogen gleiten, den er herausgezogen hatte. Unvermittelt änderte sich sein Gesichtsausdruck. Er kehrte aus dem Reich der Fantasie in die Wirklichkeit zurück.
    «Wie ärgerlich!», murmelte er vor sich hin. «Wirklich, sehr ärgerlich. Nach all den Jahren! Das wirft meine ganzen Pläne um.»

2
11. Januar
    Der Mann im Bett bewegte sich und ließ ein Stöhnen hören. Die Krankenschwester stand auf und trat zu ihm. Sie glättete die Kissen und half ihm in eine bequemere Lage.
    Andrew MacWhirter gab als Dank nur ein Knurren von sich. Er war in erbitterter und rebellischer Stimmung.
    Zu dieser Stunde hätte alles längst vorbei sein sollen. Er hätte von allem befreit sein sollen. Fluch über den verdammten Baum, der überflüssigerweise gerade aus der Klippe herauswachsen musste! Fluch über das Liebespaar, das einem kalten Winterabend Trotz bot, um sich am Rande der Klippe ein Stelldichein zu geben! Wären das Liebespaar und der Baum nicht gewesen, so wäre jetzt alles überstanden – ein Sprung ins tiefe, eiskalte Wasser, vielleicht ein kurzer Kampf, und dann Erlösung – das Ende eines verfehlten, nutzlosen Lebens.
    Und was war jetzt mit ihm? Da lag er lächerlicherweise in einem Krankenhausbett, mit einer gebrochenen Schulter und mit der Aussicht, sich wegen versuchten Selbstmords vor Gericht verantworten zu müssen.
    Es handelte sich doch um sein eigenes Leben, oder etwa nicht? Und wenn ihm sein Vorhaben geglückt wäre, dann hätte man ihn als einen Geistesgestörten fromm begraben!
    Geistesgestört, haha! Nie war er mehr bei Verstand gewesen. Selbstmord zu verüben war das Vernünftigste, was ein Mann in seiner Lage überhaupt tun konnte.
    Elend und verlassen, verlassen von einer Frau, die mit einem andern durchgegangen war… Arbeitslos, ohne Bindung, ohne Geld und ohne Hoffnung – war es da nicht die beste Lösung, allem ein Ende zu machen?
    Ja, und da lag er nun. Er schnaubte ärgerlich. Eine Fieberwelle überlief ihn.
    Die Krankenschwester stand wieder neben ihm.
    «Haben Sie starke Schmerzen?»
    «Nein.»
    «Ich werde Ihnen ein Schlafmittel geben.»
    «Sie werden nichts dergleichen tun.»
    «Aber…»
    «Glauben Sie, ich könnte ein paar Schmerzen und ein bisschen Schlaflosigkeit nicht ertragen?»
    Sie strich abermals die Kissen glatt und rückte ihm ein Glas Limonade näher hin.
    Leicht beschämt sagte er: «Entschuldigen Sie meine Schroffheit.»
    «Oh, das macht nichts.»
    Es ergrimmte ihn, dass sie sich von seiner schlechten Laune nicht im geringsten beeindrucken ließ. In ihren Augen war er nur ein Patient, kein Mensch.
    Ruhig fuhr sie fort: «Morgen werden Sie sich schon viel besser fühlen.»
    «Ach, ihr Krankenschwestern! Ihr seid unmenschlich, das seid ihr!»
    «Wir wissen nur, was für Sie am besten ist.»
    «Das ärgert mich
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