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Kurz vor Mitternacht

Kurz vor Mitternacht

Titel: Kurz vor Mitternacht
Autoren: Agatha Christie
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ja so! Diese dauernden Einmischungen! Von Ihnen, den Ärzten, von der ganzen Welt. Alle wissen’s besser. Ich wollte mir das Leben nehmen. Das ist Ihnen bekannt, nicht wahr?»
    Sie nickte.
    «Es geht niemanden etwas an, wenn ich mit meinem Leben Schluss machen will, niemanden! Warum soll ich mich nicht umbringen, wenn ich es will?»
    «Weil es verkehrt ist», antwortete sie.
    «Wieso ist es verkehrt?»
    Nachdenklich sah sie ihn an. In ihrem Glauben fühlte sie sich nicht erschüttert, aber es fiel ihr schwer, sich auszudrücken.
    «Ja, ich meine, es ist Sünde, sich umzubringen. Man muss weiterleben, ob es einem gefällt oder nicht.»
    «Weshalb denn?»
    «Nun, man muss doch an die andern Menschen denken, nicht wahr?»
    «In meinem Fall nicht. Es gibt keine Seele auf der Erde, für die es einen Nachteil bedeutet, wenn ich nicht mehr bin.»
    «Haben Sie denn gar keine Verwandten?»
    «Nein. Ich hatte eine Frau, aber die hat mich verlassen. Ganz gut so! Sie sah, dass ich nichts taugte.»
    «Aber Sie haben doch sicherlich Freunde?»
    «Nein. Ich bin kein Mensch für Freundschaften. Schauen Sie, Schwester, ich will Ihnen was erzählen. Früher war ich recht glücklich. Ich hatte eine gute Stellung und eine hübsche Frau. Dann gab es einen Autounfall. Mein Chef fuhr den Wagen, und ich saß mit darin. Er wollte, dass ich aussage, er habe im Augenblick des Unfalls die vorgeschriebene Geschwindigkeit nicht überschritten. Das stimmte aber nicht. Er war fast doppelt so schnell gefahren. Niemand war bei dem Unfall ums Leben gekommen, aber er wollte wegen der Versicherung im Recht sein. Nun, ich sagte nicht aus, was er wünschte. Das wäre eine Lüge gewesen. Ich lüge nicht.»
    «Ich finde, Sie haben ganz richtig gehandelt», bemerkte die Schwester.
    «So, das finden Sie? Mich kostete meine Starrköpfigkeit die Stellung. Mein Chef war wütend. Er sorgte dafür, dass ich keine neue Stellung bekam. Meine Frau wurde es leid, mich untätig herumsitzen zu sehen. Sie ging mit einem Mann durch, der mein Freund gewesen war. Nun, da blieb mir nichts mehr, für das sich das Leben lohnte. Ich nützte keinem Menschen.»
    «Das können Sie gar nicht wissen», murmelte die kleine Krankenschwester.
    Er lachte. Seine Stimmung hatte sich erheblich gebessert. Ihr naiver Widerstand belustigte ihn.
    «Mein gutes Kind, wem sollte ich denn etwas nützen?»
    Sie erwiderte verwirrt: «Das wissen Sie ja gar nicht. Eines Tages… vielleicht…»
    «Jedenfalls habe ich das Recht, mit meinem eigenen Leben zu machen, was ich will.»
    «Nein, das haben Sie nicht.»
    «Aber wieso denn nicht?»
    Sie errötete. Ihre Finger spielten mit dem kleinen goldenen Kreuz, das auf ihrer Brust hing.
    «Sie verstehen nicht… Gott könnte Sie brauchen.»
    Er starrte sie an. Er wollte ihr den kindlichen Glauben nicht nehmen. Gleichwohl sagte er mit leichtem Spott: «Sie meinen, ich werde eines Tages ein durchgegangenes Pferd aufhalten und einer blonden Maid das Leben retten?»
    Sie schüttelte den Kopf. Mit einer Heftigkeit, der man ihr Bemühen, die richtigen Worte zu finden, anmerkte, antwortete sie: «Es genügt schon, dass Sie sich irgendwo aufhalten – ohne etwas zu tun –, dass Sie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sind. Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll… Vielleicht gehen Sie eines Tages nur über die Straße und tun damit etwas sehr Wichtiges und Einschneidendes, ohne es selber zu wissen…»
    Die rothaarige kleine Krankenschwester stammte von der Westküste Schottlands, und in ihrer Familie gab es Leute, die «Gesichte» hatten.
    Vielleicht sah sie unklar einen Mann an einem Septemberabend über eine Straße gehen, der dadurch einen Menschen vor einem entsetzlichen Tod bewahrte…

3
14. Februar
    E s befand sich nur eine Person im Zimmer, und kein anderes Geräusch war zu hören als das Kratzen einer Feder, die diese Person Zeile um Zeile übers Papier gleiten ließ.
    Niemand würde die Worte lesen, die geschrieben wurden. Wären sie gesehen worden, so hätte der Leser seinen Augen kaum getraut. Denn was hier niedergeschrieben wurde, war ein klarer, in allen Einzelheiten sorgfältig ausgearbeiteter Mordplan.
    Der Mensch, der da saß und schrieb, kannte nur einen Gedanken und ein Ziel – die Vernichtung eines anderen Menschen. Um dieses Ziel zu erreichen, zeichnete er den Plan ganz genau auf. Jede Möglichkeit wurde in Betracht gezogen. Auch mit Unvorhergesehenem musste gerechnet werden. In den Hauptzügen aber lag alles. Die Zeit,
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