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Kurs Minosmond

Kurs Minosmond

Titel: Kurs Minosmond
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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Fußtapfen.
    Also, auf zum Stall!
    Der Stall nun hatte wenig mit dem gemein, was die Vorväter unter diesem Wort verstanden hätten, und auch nicht viel damit, was in der Übergangszeit so geheißen hatte. Pauline neigte dazu, sich die Dinge im Wandel ihrer Geschichte vorzustellen, im Gegenwärtigen die vielfältigen Formen und Gestalten zu erkunden, die die Gegenstände oder erst recht die Begriffe hinter sich gebracht hatten; für geschichtliche Abläufe hatte sie ein fast liebhaberisches Interesse. Dieser Hang wohl zuallererst und auch das früh erlernte Schneiderhandwerk hatten sie auf die Kunst der Modistin geführt, der Gewandmeisterin, die die Kostüme für das Kreistheater entwarf. Diese Neigung, sich gedanklich in andere Zeiten zu begeben, hatte bei ihr den Drang nach Bewegung im Raum, nach großen Reisen zu anderen Völkern und Ländern, nicht aufkommen lassen. Wenn er je einmal im Keim vorhanden gewesen sein sollte, so war er durch den üblichen Besuch aller Kontinente während der Schulzeit voll befriedigt worden, und nie hatte es Pauline aus dem Dorf, ja nicht einmal aus dem Vorwerk fortgezogen. Hier übte sie ihr Handwerk und ihre Kunst aus, hier leistete sie ihren Dienst an der Gesellschaft, anfangs als Biochemikerin im Stall, nun aber mit größerem Interesse, wenn auch zeitlich geringerem Aufwand als Ordner.
    Der Stall oder das, was die Leute wie auch Pauline aus Tradition und umgangssprachlicher Untertreibung als Stall bezeichneten, diente hauptsächlich zwei Zwecken, einem übergreifend-wissenschaftlichen und einem lokalwirtschaftlichen. Wissenschaftlich war das Institut mit einem ganzen, die Region sogar überschreitenden Ring gleicher, kleiner Einrichtungen verbunden, dessen Hauptaufgabe die Renaturalisierung der Landschaft, der Flora und Fauna, war, wobei das „Re-“ nicht einfach ein Zurück bedeutete; die Urlandschaft vorgeschichtlicher Zeit war unwiederbringlich, es ging vielmehr darum, die Folgen der ökologischen Schwankungen und Krankungen, die das Ende der Übergangszeit weltweit begleitet hatten, gänzlich aufzuheben und zugleich eine Landschaft entstehen zu lassen, die es noch nicht gegeben hatte: Biotope, innerlich im Gleichgewicht und miteinander harmonisiert, meist nur kleinwirtschaftlich genutzt, also beispielsweise für den Holzeinschlag durch die örtlichen Handwerker; all das mit ständig geringer werdendem menschlichem Eingreifen; darin eingelagert freilich auch geeignete Flächen großwirtschaftlicher Nutzung, allerdings nicht hier, in der Umgebung des Dorfes.
    Im Rahmen dieser ungeheuer komplizierten und vor allem langfristigen Vorhaben hatte jede dieser kleinen Stationen eine winzige Teilaufgabe, sei es die intensive Hege oder sogar die Nachzüchtung einer immer noch bedrohten Wildtierart, sei es die Anpassung einer Pflanze durch genetische Veränderung und Vermehrung, das alles jeweils verbunden mit Forschung einerseits und großflächigen Versuchen andererseits, und das alles mit Hilfe eines einfachen Instrumentariums, in dem E-Mikroskop, Ultrazentrifuge und Kleinrechner noch das aufwendigste waren.
    In der Regel hatte jede Station eine zentrale Aufgabe, die nach mehreren Jahren wechselte, und einige Nebenaufgaben, meist beobachtender und messender Art, immer jedoch so gehalten, daß die dreißig oder vierzig Leute, die hier arbeiteten, mit ihren zwei Dienststunden am Tag auskamen und dabei auch noch die lokalwirtschaftliche Aufgabe erfüllen konnten. Die hiesige wissenschaftliche Aufgabe war derzeit die Nachzüchtung von tollwutresistenten Füchsen, die lokalwirtschaftliche das Abnehmen und Konservieren der Vermehrungszellen von den Schweinen und Rindern, die einige Bewohner des Vorwerks als gesellschaftliche Dienstleistung am Haus hielten. Die Zellen brauchte die industrielle Fleischproduktion, und die Tiere selbst, wenn sie schlachtreif waren, lieferten den Dörflern das Tierfleisch, dessentwegen manche Feinschmecker aus der Stadt gelegentlich gern die Gastlichkeit des Dorfs in Anspruch nahmen.

    Im Stall also, das heißt im Terrarium für die Füchse, in den Labors und so weiter, traf Pauline sieben Leute, die alle nichts gesehen hatten. Einer, der mehrere Tagewerke zusammengelegt hatte, um einen langwierigen Versuch steuern zu können, und also heute morgen schon hier gewesen war, wußte aber wenigstens, daß Otto Mohr sich für acht Uhr das E-Mikro reserviert hatte. Alle waren betroffen über den plötzlichen Tod ihres Nachbarn, aber niemand schien etwas zu ahnen
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