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Kurs Minosmond

Kurs Minosmond

Titel: Kurs Minosmond
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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daraufkommen wollen, aus Scheu vor dem, was sich daraus ergeben würde; und so schlau und weitsichtig waren die unbewußten Impulse, daß es eines Gegenstands bedurft hatte, die Einsicht freizusetzen: Es mußte ja auch jemand dagewesen sein, der Gewalt ausgeübt hatte!
    Der aber mußte entweder aus dem Vorwerk stammen, was Pauline erst einmal nicht glaubte, oder er mußte zum Vorwerk gekommen sein, zufällig oder vorsätzlich, in der Absicht, Gewalt zu üben – nein, was war das alles für Widersinn! Wer sollte einen Grund dazu haben, hier oder sonstwo? Im Vorwerk kannte sie jeden der knapp sechzig Einwohner und wußte, daß niemand den geringsten Grund hatte, Otto auch nur übelzuwollen. Also doch ein Fremder? Ja, doch wohl ein Fremder – und auf die Länge eines Gedankens fiel sie um Jahrhunderte zurück, in einen geistigen Zustand, in dem man fremd gleich schlecht setzte. Aber sie bemerkte es nicht einmal, weil nun ihr Denken in Bewegung geriet: Gestern abend, nachts oder heute früh? Der Arzt würde das genauer sagen können. Da sie nun sachlicher wurde, bemerkte sie auch, daß der Tote Arbeitskleidung für den Stall trug, wo er heute morgen hatte Dienst tun wollen und von wo man die Ratgeberin angerufen hatte, die dann wiederum nach ihm sehen gegangen war und ihn gefunden hatte.
    Heute morgen also! In der Stunde zwischen Aufstehen und Dienstbeginn mußte es geschehen sein. Sie würde sich erkundigen, wann er hatte beginnen wollen, und dann die Stunde wissen, sicherlich eine Zeit, in der das Vorwerk schon belebt war. Und dann brauchte sie nur zu fragen. Irgend jemand mußte einfach etwas gesehen haben!
    Sie trat aus dem Haus, es war Frühling. Die helle Sonne, das frische Grün, sonst wohltätig, lösten jetzt in ihr eine dumpfe, schwarze Woge aus, eine Art von Wut, die sie noch nicht erlebt hatte in den knapp zwanzig Jahren, an die sie sich erinnerte. Bisher hatte sie nur solche Aufwallungen bösen Gefühls gekannt, die sie schon als albern oder lächerlich empfand, noch bevor sie sich richtig entfalten konnten – warum soll der Mensch sich wegen irgendwelcher Lappalien von bösen Gefühlen peinigen lassen? Was aber jetzt in ihr aufstieg, ließ sich nicht abstreifen oder wegtüfteln, das war eine Mischung von allem Bitteren: Daß der Tote tot bleiben würde; daß die Sonne weiterschien, als sei nichts geschehen; daß so etwas überhaupt möglich war in ihrer heiteren Zeit; daß es gerade diesen hatte treffen müssen und daß sie nichts, nichts, nichts tun konnte, um etwas daran zu ändern – das würgte sie im Hals und drückte von innen gegen die Schädeldecke, daß ihr der Kopf weh tat.
    Mit zwanzig Schritten war sie bei der Ratgeberin, ließ sich Papier und Stift geben, schrieb: NICHT BETRETEN! DER ORDNER.
    „Ich häng den Zettel an die Tür, guck mal ab und zu hin, bitte, du siehst ja die Tür von hier aus.“
    „Mach ich“, sagte die Ratgeberin, „ich sitze sowieso noch ein paar Stunden an der Grapschkiste. Übrigens, der Zweite wird gerufen, er ist nicht in Prag.“
    „Jaja“, sagte Pauline ohne rechtes Interesse; sie verfolgte einen Gedanken, der ihr eben gekommen war. „Sag mal, seit wann hast du an der Grapschkiste gesessen?“
    „Seit acht. Bis der Anruf vom Stall kam, da bin ich dann rübergegangen zu Otto.“
    „Und hast du immer die Straße im Auge gehabt? Ich meine…“
    „Weiß schon, was du meinst. Nein, es ist keiner zu Otto gekommen. Auch keiner rausgegangen. Ich brauch doch einen Tischler für uns, für ein Jahr, weil Jochen Bantekow kunsthalber zur Südsee fährt, und ein ganzes Jahr ohne Tischler im Vorwerk – na, kurz, ich dachte, vielleicht kriegen wir einen reisenden Meister, hab mich erkundigt im Kreis, im Bezirk, in der Region, mit ein paar Leuten direkt verhandelt, andere nicht erreicht – dauert alles seine Zeit. Jedenfalls hab ich fast immer aus dem Fenster geguckt, und selbst wenn ich auf den Schirm blicke, sehe ich doch dahinter durchs Fenster die Straße und Ottos Haustür. Wenn natürlich einer von hinten durch den Garten…“
    „Ich geh zum Stall“, sagte Pauline. „Da guck ich mir unterwegs den Garten an.“
    Zwischen Mohrs und dem nächsten Grundstück führte ein Trampelpfad in den Busch, Pauline lief ihn ein Stück entlang und sah ohne große Mühe, daß niemand im Garten gewesen sein konnte. Der Garten war klein, ein paar Blumenrabatten, ein paar Beete für Kräuter, alles erst spärlich bewachsen, der Boden glatt und geharkt, auch der Weg, keine
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