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Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)

Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)

Titel: Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)
Autoren: Roald Dahl
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Stufen erstiegen und die Hand nach dem Klingelknopf ausgestreckt.
    Er läutete. Die Glocke schrillte in irgendeinem der hinteren Räume, und gleichzeitig – es musste gleichzeitig sein, denn er hatte den Finger noch auf dem Knopf – sprang die Tür auf und vor ihm stand eine Frau.
    Wenn man läutet, dauert es gewöhnlich mindestens eine halbe Minute, bevor die Tür geöffnet wird. Aber diese Frau war wie ein Schachtelmännchen: Man drückte auf den Knopf, und schon sprang sie heraus! Geradezu unheimlich war das.
    Sie mochte fünfundvierzig bis fünfzig Jahre alt sein, und sie begrüßte ihn mit einem warmen Willkommenslächeln.
    «Bitte treten Sie näher», sagte sie freundlich. Sie hielt die Tür weit offen, und Billy ertappte sich dabei, dass er automatisch vorwärts gehen wollte. Der Drang oder vielmehr die Begierde, ihr in dieses Haus zu folgen, war außerordentlich stark.
    «Ich habe das Schild im Fenster gesehen», erklärte er, ohne die Schwelle zu überschreiten.
    «Ja, ich weiß.»
    «Ich suche ein Zimmer.»
    «Alles ist für Sie bereit, mein Lieber», antwortete sie. Ihr Gesicht war rund und rosig, der Blick ihrer blauen Augen sehr sanft.
    «Ich war auf dem Weg zum Bell and Dragon », berichtete Billy. «Aber dann sah ich zufällig dieses Schild in Ihrem Fenster.»
    «Lieber Junge», sagte sie, «warum stehen Sie denn in der Kälte? Kommen Sie doch herein.»
    «Wie viel kostet das Zimmer?»
    «Fünfeinhalb für die Nacht einschließlich Frühstück.»
    Das war unglaublich billig. Weniger als die Hälfte des Betrages, mit dem er gerechnet hatte.
    «Wenn es zu viel ist», fügte sie hinzu, «kann ich’s vielleicht auch ein bisschen billiger machen. Wollen Sie ein Ei zum Frühstück? Eier sind zurzeit teuer. Ohne Ei kostet es einen halben Shilling weniger.»
    «Fünfeinhalb ist ganz gut», erwiderte er. «Ich möchte gern hierbleiben.»
    «Das habe ich mir gleich gedacht. Kommen Sie herein.»
    Sie schien wirklich sehr nett zu sein. Und sie sah genauso aus wie eine Mutter, die den besten Schulfreund ihres Sohnes für die Weihnachtstage in ihrem Hause willkommen heißt. Billy nahm den Hut ab und trat ein.
    «Hängen Sie Ihre Sachen nur dorthin», sagte sie. «Warten Sie, ich helfe Ihnen aus dem Mantel.»
    Andere Hüte oder Mäntel waren in der Diele nicht zu sehen. Auch keine Schirme, keine Spazierstöcke – nichts.
    «Wir haben hier alles für uns allein», bemerkte sie und lächelte ihm über die Schulter zu, während sie ihn die Treppe hinaufführte. «Wissen Sie, ich habe nicht sehr oft das Vergnügen, einen Gast in meinem kleinen Nest zu beherbergen.»
    Die Alte ist ein bisschen verdreht, dachte Billy. Aber für fünfeinhalb die Nacht kann man das schon in Kauf nehmen. «Ich hätte geglaubt, Sie wären von Gästen überlaufen», sagte er höflich.
    «Bin ich auch, mein Lieber, bin ich auch. Die Sache ist nur so, dass ich dazu neige, ein ganz klein wenig wählerisch und eigen zu sein – wenn Sie verstehen, was ich meine.»
    «O ja.»
    «Aber bereit bin ich immer. Ja, ich halte Tag und Nacht alles bereit für den Fall, dass einmal ein annehmbarer junger Mann erscheint. Und es ist eine große Freude, mein Lieber, eine sehr große Freude, wenn ich hie und da die Tür aufmache und jemand vor mir sehe, der genau richtig ist.» Sie hatte den Treppenabsatz erreicht, blieb stehen, die eine Hand auf dem Geländer, wandte den Kopf und lächelte mit blassen Lippen auf ihn herab. «Wie Sie», setzte sie hinzu, und der Blick ihrer blauen Augen glitt langsam von Billys Kopf bis zu seinen Füßen und dann wieder hinauf.
    In der ersten Etage sagte sie zu ihm: «Hier wohne ich.»
    Sie stiegen noch eine Treppe höher. «Und dies ist Ihr Reich», fuhr sie fort. «Ich hoffe, Ihr Zimmer gefällt Ihnen.» Damit öffnete sie die Tür eines kleinen, aber sehr hübschen Vorderzimmers und knipste beim Eintreten das Licht an.
    «Morgens scheint die Sonne direkt ins Fenster, Mr.   Perkins. Sie heißen doch Mr.   Perkins, nicht wahr?»
    «Nein», sagte er. «Weaver.»
    «Mr.   Weaver. Wie hübsch. Ich habe eine Wärmflasche ins Bett getan, damit sich die Bezüge nicht so klamm anfühlen. In einem fremden Bett mit frischer Wäsche ist eine Wärmflasche sehr angenehm, finden Sie nicht? Und falls Sie frösteln, können Sie jederzeit den Gasofen anstecken.»
    «Danke», sagte Billy. «Haben Sie vielen Dank.» Er bemerkte, dass die Überdecke bereits abgenommen und die Bettdecke an einer Seite zurückgeschlagen war – er brauchte
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