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Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)

Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)

Titel: Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)
Autoren: Roald Dahl
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sah, bin ich tatsächlich darauf hereingefallen. Ich hätte schwören können, dass er lebt.»
    «Leider nicht mehr.»
    «Eine ausgezeichnete Arbeit», bemerkte Billy. «Wirklich, er sieht nicht im Geringsten tot aus. Wer hat ihn denn ausgestopft?»
    «Ich.»
    «Sie?»
    «Natürlich», bestätigte sie. «Haben Sie schon meinen kleinen Basil gesehen?» Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf den Dackel, der so behaglich zusammengerollt vor dem Kamin lag. Billy schaute hin, und plötzlich wurde ihm klar, dass sich das Tier die ganze Zeit ebenso stumm und unbeweglich verhalten hatte wie der Papagei. Er streckte die Hand aus. Der Rücken des Hundes, den er vorsichtig berührte, war hart und kalt, und als er mit den Fingern das Haar beiseiteschob, sah er darunter die trockene, gut konservierte, schwarzgraue Haut.
    «Du lieber Himmel», rief er, «das ist ja phantastisch!» Er wandte sich von dem Hund ab und blickte voller Bewunderung die kleine Frau an, die neben ihm auf dem Sofa saß. «So etwas muss doch unglaublich schwierig sein.»
    «Durchaus nicht», erwiderte sie. «Ich stopfe alle meine kleinen Lieblinge aus, wenn sie von mir gehen. Möchten Sie noch eine Tasse Tee?»
    «Nein, danke», sagte Billy. Der Tee schmeckte ein wenig nach bitteren Mandeln, und das mochte er nicht.
    «Sie haben sich in das Buch eingetragen, nicht wahr?»
    «Ja, gewiss.»
    «Dann ist es gut. Weil ich später, falls ich Ihren Namen einmal vergessen sollte, immer herunterkommen und im Buch nachschlagen kann. Das tue ich fast täglich mit Mr.   Mulholland und Mr … . Mr … .»
    «Temple», ergänzte Billy. «Gregory Temple. Entschuldigen Sie, aber haben Sie denn außer den beiden in den letzten zwei, drei Jahren gar keine anderen Gäste gehabt?»
    Sie hielt die Tasse hoch in der Hand, neigte den Kopf leicht nach links, blickte aus den Augenwinkeln zu ihm auf, lächelte ihn freundlich an und sagte: «Nein, lieber Freund. Nur Sie.»

William und Mary
    Viel Geld hinterließ William Pearl nicht, als er starb, und sein Testament war sehr unkompliziert. Mit Ausnahme einiger kleiner Legate an Verwandte hatte er alles, was er besaß, seiner Frau zugedacht.
    Der Anwalt und Mrs.   Pearl gingen zusammen im Anwaltsbüro das Testament durch, und als das Geschäftliche erledigt war, wollte sich die Witwe verabschieden. In diesem Moment nahm der Anwalt aus einem Aktendeckel einen versiegelten Umschlag und reichte ihn seiner Klientin. «Ich habe den Auftrag, Ihnen dies zu übergeben», sagte er. «Ihr Mann hat es uns kurz vor seinem Hinscheiden geschickt.» Der Anwalt war blass und steif, und da man einer Witwe Respekt schuldet, legte er beim Sprechen den Kopf schräg und blickte zu Boden. «Offenbar handelt es sich um etwas Persönliches, Mrs.   Pearl. Sie werden das Schreiben wohl lieber zu Hause lesen wollen, wo Sie ungestört sind.»
    Mrs.   Pearl nahm den Brief und ging. Auf der Straße blieb sie stehen und betastete den Umschlag mit den Fingern.
    Ein Abschiedsbrief von William? Wahrscheinlich. Ein formeller Brief? Ja, bestimmt war er formell – kühl und formell. Anders hätte William gar nicht schreiben können, denn er hatte zeit seines Lebens nichts Unformelles getan.
     
    Meine liebe Mary, ich hoffe und wünsche, dass Dich mein Abschied von dieser Welt nicht zu sehr aufregen wird, und ich bitte Dich, auch weiterhin die Grundsätze zu beachten, von denen Du Dich während unserer Ehe so treulich hast leiten lassen. Sei und bleibe fleißig und wahre in jeder Beziehung Deine Würde. Geh sparsam mit dem Geld um. Sorge vor allem dafür, dass Du nicht … und so weiter und so weiter.
     
    Ein typischer Brief von William.
    Oder sollte er etwa in letzter Minute weich geworden sein und ihr etwas Schönes geschrieben haben? Vielleicht war dies eine zärtliche Botschaft, eine Art Liebeserklärung, ein inniger, warmer Dank für die dreißig Jahre ihres Lebens, die sie ihm geschenkt hatte, und für die ungezählten gebügelten Hemden, sorgsam zubereiteten Mahlzeiten und gemachten Betten – ein Brief, den sie wieder und wieder lesen könnte, täglich wenigstens einmal, und den sie für immer in dem Schmuckkasten auf ihrem Toilettentisch aufbewahren würde.
    Wenn es ans Sterben geht, ist der Mensch zu allem fähig, sagte sich Mrs.   Pearl, klemmte den Umschlag unter den Arm und eilte nach Hause.
    Sie schloss die Tür auf, ging geradewegs ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa, ohne Hut und Mantel abzulegen. Dann öffnete sie den Umschlag und zog den
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