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Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)

Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)

Titel: Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)
Autoren: Roald Dahl
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Inhalt heraus. Sie stellte fest, dass es sich um fünfzehn bis zwanzig linierte weiße Bogen handelte, die in der Mitte gefaltet waren und an der linken oberen Ecke von einer Heftklammer zusammengehalten wurden. Jedes Blatt war mit der kleinen, vorwärtsgeneigten Schrift bedeckt, die sie so gut kannte. Als sie jedoch sah, wie viel es war, wie geschäftsmäßig sauber sich Zeile an Zeile reihte und wie sachlich das Schreiben begann – ganz anders, als man es von einem solchen Brief erhofft –, da wurde sie misstrauisch.
    Sie hob den Kopf, zündete sich eine Zigarette an, tat einen Zug und legte die Zigarette in den Aschbecher.
    Wenn es in diesem Brief um das geht, was ich befürchte, sagte sie sich, dann möchte ich ihn lieber nicht lesen.
    Kann man sich weigern, den Brief eines Verstorbenen zu lesen?
    Ja.
    Also …
    Sie warf einen Blick auf Williams leeren Sessel vor dem Kamin. Es war ein großer brauner Ledersessel mit einer Einbuchtung, die von Williams Gesäß herrührte und die mit den Jahren immer tiefer geworden war. Oben an der Rückenlehne hatte Williams Kopf einen dunklen Fleck auf dem Leder hinterlassen. In diesem Stuhl hatte er es sich abends gern mit einem Buch bequem gemacht, während sie ihm gegenüber auf dem Sofa saß, Knöpfe annähte, Socken stopfte oder seine Jacken an den Ellbogen flickte. Hin und wieder hatten dann ein Paar Augen von dem Buch aufgeschaut und zu ihr hinübergeblickt, aufmerksam, aber merkwürdig unpersönlich, als berechneten sie irgendetwas. Diese Augen hatte sie nie gemocht. Sie waren eisblau, kalt, klein und standen ziemlich eng zusammen, durch zwei tiefe senkrechte Linien der Missbilligung getrennt. Dreißig Jahre lang hatten diese Augen sie beobachtet. Und selbst jetzt, nach einer Woche des Alleinseins, hatte sie manchmal das unbehagliche Gefühl, sie seien noch da, folgten ihr, starrten sie aus den Türen an, von leeren Stühlen oder nachts durch ein Fenster.
    Langsam griff sie in die Handtasche, nahm ihre Brille heraus und setzte sie auf. Sie hielt die Blätter ziemlich hoch, damit das Licht des späten Nachmittags über ihre Schultern hinweg darauf fiel, und begann zu lesen:
     
    Diese Aufzeichnungen, meine liebe Mary, sind nur für Dich bestimmt, und Du wirst sie bald nach meinem Ableben erhalten.
    Erschrick nicht, wenn Du all dies Geschriebene siehst. Es ist nur ein Versuch, Dir genau zu erklären, was Landy mit mir vorhat, warum ich ihm die Erlaubnis dazu gegeben habe und worin seine Theorien und seine Hoffnungen bestehen. Du bist meine Frau und hast ein Recht, das alles zu erfahren. In den letzten Tagen habe ich mich immer wieder bemüht, mit Dir über Landy zu sprechen, aber Du hast Dich beharrlich geweigert, mich anzuhören. Wie ich Dir bereits sagte, ist das eine sehr törichte Einstellung, die mir obendrein nicht ganz frei von Selbstsucht zu sein scheint. Du wehrst Dich hauptsächlich aus Unwissenheit, und ich bin fest überzeugt, dass Du Deine Ansicht sofort ändern würdest, wenn Dir alle Tatsachen bekannt wären. Deswegen hoffe ich, dass Du bereit sein wirst, diesen Brief mit verständnisvoller Aufmerksamkeit zu lesen, wenn ich nicht mehr bei Dir bin und Du Dich innerlich ein wenig beruhigt hast. Dann, das schwöre ich Dir, wird sich Deine Antipathie verflüchtigen und heller Begeisterung Platz machen. Ich wage sogar zu hoffen, dass Du ein wenig stolz auf das sein wirst, was ich getan habe.
    Bevor Du weiterliest, bitte ich Dich, die Kühle meines Stils zu verzeihen. Nur so, in dieser Form, wird es mir gelingen, Dir meine Botschaft klar und unmissverständlich zu übermitteln. Da meine Stunde naht, ist es nur natürlich, dass ich anfange, mich allen möglichen Sentimentalitäten hinzugeben. Ich werde von Tag zu Tag empfindsamer, vor allem in den Abendstunden, und ich muss mich streng kontrollieren, damit meine Gefühle diese Seiten nicht überfluten.
    So möchte ich zum Beispiel etwas über Dich, liebe Mary, schreiben, Dir sagen, was für eine gute Frau Du mir all die Jahre hindurch gewesen bist, und ich nehme mir vor, das als Nächstes zu tun, wenn ich noch Zeit und Kraft dazu habe.
    Es verlangt mich auch, von meinem Oxford zu sprechen, wo ich siebzehn Jahre lang gelebt und gelehrt habe. Wie gern würde ich etwas zum Ruhm dieses Ortes sagen und zu erklären suchen, was es für mich bedeutet hat, dass ich dort wirken durfte. Alles, was ich so sehr an Oxford geliebt habe, dringt unablässig in meinem düsteren Krankenzimmer auf mich ein. Schön sind diese
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