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Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)

Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)

Titel: Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)
Autoren: Roald Dahl
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Bilder, strahlend wie immer, und aus irgendeinem Grunde sehe ich sie heute klarer denn je. Der Weg um den See in den Gärten des Worcester College, den Lovelace zu gehen pflegte. Der Torweg in Pembroke. Der Blick westwärts über die Stadt vom Turm des Magdalen College. Die große Halle von Christchurch. Der kleine Steingarten in St. John’s, wo ich mehr als ein Dutzend Varietäten der Campanula gezählt habe, einschließlich der zierlichen und so seltenen C. Waldsteiniana.
    Aber Du siehst, kaum habe ich begonnen, da lasse ich mich schon hinreißen. Genug davon, ich fange nun mit meinem Bericht an. Lies ihn langsam, meine Liebe, ohne jede Trauer oder Ablehnung, die Dir das Verständnis erschweren würden. Versprich mir, dass Du langsam lesen und Dich zuvor in eine kühle, geduldige Stimmung versetzen wirst.
    Die Einzelheiten der Krankheit, die mich mitten in meinem Leben so unerwartet niedergeworfen hat, sind Dir bekannt. Daran brauche ich also keine Zeit zu verschwenden – es sei denn, dass ich zugeben muss, wie töricht es von mir war, nicht früher zum Arzt zu gehen. Krebs ist eines der wenigen Leiden, gegen die selbst unsere neuesten Medikamente nichts auszurichten vermögen. Ein rechtzeitig vorgenommener Eingriff kann erfolgreich sein; doch ich habe nicht nur zu lange gewartet, sondern das Ding hatte obendrein die Unverschämtheit, meine Bauchspeicheldrüse zu befallen, was Operation und Überleben in gleicher Weise unmöglich macht.
    So lag ich denn da, mit der Aussicht, noch einen bis sechs Monate zu leben, und wurde stündlich melancholischer – als plötzlich Landy erschien.
    Er kam vor sechs Wochen, an einem Dienstagmorgen, sehr früh, lange vor Deiner Besuchszeit, und schon als er eintrat, witterte ich irgendetwas ganz Ungewöhnliches. Er ging nicht auf den Zehenspitzen wie alle anderen Besucher, die immer blöde und verlegen dreinschauen und nicht wissen, was sie sagen sollen. Frisch und lächelnd kam er an mein Bett, blickte mich mit lebhaft glänzenden Augen an und sagte: «William, mein Junge, das ist ausgezeichnet. Sie sind genau der Mann, den ich brauche.»
    Vielleicht ist es besser, Dir zu erklären, dass ich seit mehr als neun Jahren mit John Landy auf recht freundschaftlichem Fuße stehe, obgleich er nicht bei uns verkehrt hat, Du ihm also selten oder nie begegnet bist. Ich selbst beschäftige mich natürlich vorwiegend mit Philosophie, habe aber, wie Du weißt, in letzter Zeit auch ziemlich viel in die Psychologie hineingepfuscht, sodass Landys und meine Interessen sich gelegentlich überschnitten. Er ist ein hervorragender Neurochirurg, einer der besten, und war vor kurzem so liebenswürdig, mir einige seiner Forschungsergebnisse zugänglich zu machen, besonders über die Wirkungen der Präfrontal-Lobotomie auf verschiedene Typen von Psychopathen. Du siehst also, dass wir uns keineswegs fremd waren, als er an jenem Dienstagmorgen unerwartet bei mir auftauchte.
    «Na, mein Lieber», sagte er, während er sich einen Stuhl ans Bett zog, «in ein paar Wochen werden Sie also tot sein. Stimmt’s?»
    Aus Landys Mund klang die Bemerkung keineswegs unfreundlich. Im Grunde war es erfrischend, dass endlich einmal ein Besucher den Mut hatte, das verbotene Thema anzuschneiden.
    «In diesem Zimmer», fuhr er fort, «werden Sie den letzten Atemzug tun, und dann wird man Sie hinausbringen und verbrennen.»
    «Begraben», sagte ich.
    «Noch schlimmer. Und dann? Glauben Sie, dass Sie in den Himmel kommen?»
    «Das bezweifle ich», war meine Antwort, «so tröstlich dieser Gedanke auch wäre.»
    «Oder vielleicht in die Hölle?»
    «Womit sollte ich das wohl verdient haben?»
    «Kann man nie wissen, mein lieber William.»
    «Was soll das alles?», fragte ich.
    «Nun», sagte er, und ich sah, dass er mich aufmerksam betrachtete, «ich persönlich glaube nicht, dass Sie nach Ihrem Tode jemals wieder von sich hören werden – es sei denn …» Er machte eine Pause, lächelte und beugte sich ein wenig vor, «… es sei denn, Sie wären so vernünftig, sich meinen Händen anzuvertrauen. Sind Sie bereit, einen Vorschlag zu erwägen?»
    Er blickte mich unverwandt an, forschend, abschätzend, mit einem merkwürdigen Ausdruck der Begierde, als wäre ich ein besonders gutes Stück Fleisch auf dem Ladentisch, das er gekauft hatte und nun einpacken lassen wollte.
    «Ganz im Ernst, William, sind Sie bereit, einen Vorschlag zu erwägen?»
    «Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.»
    «Sie werden es gleich erfahren.
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