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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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hat mit jener Form zu tun, die der Terror infolge der »Entkulakisierung«, der »Liquidierung der Großbauern als Klasse, der »zweiten, Stalinschen Revolution« annahm. Die entkulakisierten Bauern füllen nicht nur die Reihen der Ganoven, wovon Schalamow schreibt – die forcierte Urbanisierung, deren Opfer und zugleich Akteure sie sind, schafft die Bedingungen, die dem asozialen Gesetz der Diebe erstmals die bis dahin fehlenden Züge des Allgegenwärtigen verleihen. Es dehnte seinen Einfluss nicht nur auf das Lager aus, sondern auch auf die – mit einem Ausdruck von Solshenizyn – »misshandelte« Freiheit. Beim Blättern in einem »Wörterbuch des Gefängnis-, Lager- und Ganovenjargons« 5 kann sich jeder zu Sowjetzeiten Aufgewachsene (auch wenn er nie hinter Gittern saß) mühelos überzeugen: viele Wörter der Gaunersprache (der schwarzen Sprache, der Gaunermusik) braucht man ihm nicht zu übersetzen. Schmiere, Maline, Schmus, Fose, Nepper,
frajer
, pfeifen, schrekenen, schieben, hops gehen – diese und ähnliche Ausdrücke hat er schon gehört, gelesen und hier und da (etwa in der Armee oder im Kreis von Freunden) auch gebraucht. Ihren Sinn muss man ihm jedenfalls nicht erklären. Natürlich macht das nicht aus jedem Sowjetmenschen einen Ganoven, aber den »Tropfen Gaunerblut«, von dem der Autor der »Erzählungen aus Kolyma« voller Hass schreibt, besaßen nicht nur die Mitglieder des »verfluchten Ordens« und ihre Umgebung: ihn hatten Ärzte, Untersuchungsführer, Schriftsteller und Militärs, Arbeiter, Bauern und Professoren, ZK- und Politbüro-Mitglieder, Männer, Frauen und Kinder. Die Ganovenromantik ist dem sowjetischen Menschen in Fleisch und Blut übergegangen.
    Die Lagererfahrung hat Schalamow von der Hochachtung vor dem Volk kuriert. In dieser Hinsicht ist sein Dissens mit Solshenizyn prinzipiell und unüberbrückbar. Der Autor der »Erzählungen aus Kolyma« blieb ein Anhänger der nachrevolutionären Kultur der 20er Jahre, einer Zeit, in der er und seine Freunde (von denen viele tatsächlich Trotzkisten waren; fast keiner von ihnen hat überlebt) an die Möglichkeit einer realen Veränderung der Welt glaubten. Und umso stärker hasste er den Stalinismus, der das revolutionäre Experiment zerschlug und all seine führenden Vertreter vernichtete oder versklavte. Dort, wo der Autor des »Archipel GULag« ein bloßes Crescendo der bolschewistischen Gewalt sieht, erkennt sein Kollege, der mehr durchgemacht hat, zwei miteinander unversöhnliche Kulturen. Solshenizyn ließ sich von seinem Nationalismus mit seiner Zeit versöhnen; Schalamow wurde von seiner Revolutions-Romantik von ihr getrennt. Bis heute gibt es für den russischen Leser – bei aller scheinbaren Transparenz seiner Texte – wohl keinen schwierigeren Autor als Warlam Schalamow.
    Der Große Vaterländische Krieg spielt in den »Skizzen der Verbrecherwelt« keine besondere Rolle. Er wird fast ausschließlich im Zusammenhang mit einem anderen Krieg erwähnt, der den GULag in den letzten Jahren der Herrschaft Stalins erschütterte. Im Gegensatz zu den »Politischen« (ich setze das Wort in Anführungsstriche, weil die nach dem berühmten Artikel 58 Verurteilten in ihrer großen Mehrzahl keine Gegner des Regimes waren; die gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen waren von der Untersuchung fabriziert), denen es kategorisch verweigert wurde, an die Front zu gehen, zog man die Ganoven – oft gegen ihren Willen, unter den Mündungen der Maschinenpistole – zur Armee ein, und sie nahmen aktiv am Krieg teil. Und als sie nach dem Krieg zu ihrem Handwerk, zu ihren alten Beschäftigungen zurückkehrten und wieder ins Lager kamen, weigerten sich die ehemaligen Kameraden, die Kriegertruppe in ihre Reihen aufzunehmen. Wer gekämpft hat, so das Verdikt der Diebes »
prawilki
«, hat gegen das Gesetz verstoßen, hat eine Waffe in die Hand genommen, hat sich dem Befehl des Staates unterstellt. Ein wahrer Dieb, das wurde diese Leuten ins Gedächtnis gerufen, muss imstande sein, das Gesetz in jeder Situation zu achten.
    Die zu Verrätern (»
suki
«) Erklärten, aus der Gesellschaft der Diebe Verstoßenen, die ehemaligen Frontkämpfer erklärten den »Dieben im Gesetz« einen Krieg auf Leben und Tod. Sie machten die Lagerleitung glauben, sie seien »umgeschmiedet« und würden mit ihr kooperieren.
    Doch sie hatten etwas völlig anderes im Sinn. 1941 wären sie für die Weigerung, in der Armee zu dienen, nach dem Kriegsrecht wahrscheinlich selbst
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