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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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der Ganoven muss vernichtet werden!«
    Die Mitglieder des »verfluchten Ordens«, wiederholt Schalamow immer wieder, sind nicht einfach Verbrecher. Das bloße Begehen eines Verbrechens macht einen »gestrauchelten Menschen« noch nicht zum »wahren Dieb«. Und der Tresorknacker, der raffinierte Safes aufbricht, ist keineswegs zwingend ein Ganove. Um dem »Orden« anzugehören und sein anerkanntes, vollberechtigtes Mitglied zu sein, hat man vor allem das besondere Diebesgesetz mit Leben zu füllen, es auszulegen und den wechselnden Verhältnissen anzupassen. Der Autor hasst in den Ganoven weniger die Verbrecher (für den gewöhnlichen Verbrecher findet er ein Wort des Verständnisses) als vielmehr die Repräsentanten des antisozialen Gesetzes, das seine Macht auf das Leben im Lager ausdehnt, es von unten bis oben durchdringt. In der Welt der Ganoven gewinnt das Verbrechen eine andere Qualität, es erhält eine »theoretische« Begründung, findet sein eigenes Gesetz. Wer dem »Unterwelt-Orden« angehört, ist nicht mehr nur einfach ein »gestrauchelter Mensch«; mit seiner Unterwerfung unter das Gesetz der Diebe schneidet er die Verbindungen zur Gesellschaft für immer ab. Und eben das macht ihn in den Augen des Autors der »Skizzen« zum Nicht-Menschen. Wer in noch so perversen sozialen Verhältnissen mitspielt (und pervers waren die Verhältnisse der Stalinzeit in höchstem Maße), bleibt dennoch ein Mensch, der Repräsentant des asozialen Gesetzes jedoch verliert dieses Privileg für immer. Die Perversität eines solchen Geschöpfs übersteigt die Vorstellungskraft des gewöhnlichen Menschen, selbst des »gestrauchelten« Verbrechers (zum Beleg dessen verweist Schalamow auf die im Ganovenmilieu verbreitete Pädophilie und Zoophilie, auf die Verachtung für die Frau und auch auf die bestialischen Rituale der Bestrafung von Abtrünnigen).
    Hier kommen wir zum zentralen Paradoxon in diesem Buch.
    Schalamow macht der russischen Literatur in Gestalt Dostojewskijs, Tschechows, Gorkijs den Vorwurf, sie sei vor diesem brisanten Thema, vor dem entsetzlichen Antlitz der Ganovenwelt »zurückgeschreckt«. Gleichzeitig schließt er nicht aus, dass zu ihrer Zeit dieser Typus Mensch einfach noch nicht existierte. Aber wenn dem so ist, dann ist der Vorwurf an die vorrevolutionäre Literatur, sie habe kein Interesse am »verfluchten Orden«, so berechtigt, als wollte man Homer vorwerfen, er habe in der »Ilias« kein »McDonalds«, keine Computer, Panzer oder Raumschiffe beschrieben.
    Auf der einen Seite hält der Autor der »Skizzen« die »unterirdische Welt« der Ganoven für sehr alt (»Diese Welt hat immer existiert«, »Die Geschichte der Kriminellen, die viele Jahrtausende zählt«, »seit Gutenbergs Zeiten« 4 ). Auf der anderen Seite bringt er keinen einzigen Beweis dieses Alters bei.
    Dass die sozialen Regeln der Stalinzeit das Gesetz der Diebe nicht nur gestärkt, sondern
in dieser Gestalt zum ersten Mal überhaupt ermöglicht
haben, dass die Macht des asozialen Gesetzes sozial durchaus gewollt war, konnte Warlam Tichonowitsch Schalamow nicht akzeptieren. Für ihn verband sich mit den sozialen Regeln noch eine menschliche Ethik. Ungeachtet der unmenschlichen Leiden, die er erlebte, ist der Autor der »Skizzen« ein moralischer – und in diesem Sinne »alter«, traditioneller – Mensch, der die kriminelle Durchsetzung der stalinschen Welt, aus der der privilegierte Status der Ganoven innerhalb der Lagerwelt erwächst, nicht in ihrem ganzen Umfang gesehen hat. Justiz und Literatur jener Zeit irrten keineswegs, wenn sie die Ideen der »Umschmiedung« und der sozialen Nähe der Ganoven vertraten – der »verfluchte« Orden stand der neuen atheistischen Macht
tatsächlich
näher als die traditionelleren Menschentypen, aus denen der »neue Mensch« noch zu schmieden war. Die Ganoven wurden von umerziehungsbedürftigen Verbrechern zu Verbündeten des neuen Gesetzes. Eben mit Hilfe dieser Handlanger, so Schalamow immer wieder, machte der NKWD 1938 seine Abrechnung mit den »Trotzkisten«, der letzten organisierten Opposition gegen Stalins Regime.
    Anders gesagt, hatten die Ganoven ihr Mandat für die Herrschaft über die Welt des Lagers von Stalins Führung erhalten, die sie zu »sozial Nahestehenden« erklärte. Bei den Dieben im Gesetz haben wir es nicht mit etwas Altem, beinahe Urwüchsigem zu tun: sie sind ein unikales Phänomen der Sowjetzeit, das weder im Ausland noch im vorrevolutionären Russland Analogien kennt. Es
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