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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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treu zu bleiben. Manche Erzähler fühlen sich als Schlangenbeschwörer, als Flötenspieler, die vor einem Gewimmel von giftigen Kriechtiere singen …

    Karthago muss zerstört werden!
    Die Welt der Ganoven muss vernichtet werden!
    1959

Michail Ryklin
Lager und Krieg. Die Geschichte der Besiegten nach Warlam Schalamow
1
    Im Zyklus »Künstler der Schaufel« gibt es zwei Erzählungen »Mai« und »Juni«, die aufeinander folgen. Warum, so fragt man sich, kommt zuerst »Juni« und dann »Mai« – in der Natur ist es doch umgekehrt?
    Am 22. Juni 1941 begann der Große Vaterländische Krieg, und der sowjetische Sieg gilt noch heute als Sternstunde des Stalinreichs, als das größte Ereignis der Sowjet-Geschichte. Der Tag des Sieges wird am 9. Mai gefeiert. Der »Juni« geht dem »Mai« voraus, weil der Krieg im Juni begann und im Mai zu Ende war.
    In diesen – auf den ersten Blick unscheinbaren, jedoch für sein gesamtes Schaffen fundamentalen – Erzählungen zeigt Warlam Tichonowitsch Schalamow zum ersten Mal in der russischen Literatur den Krieg aus der Perspektive eines Lager
dochodjaga
, eines hungernden Lagerhäftlings.
    Die Fabel ist, wie immer bei diesem Autor, schlicht. Andrejew, ein »Docht«, ein Mann, der an systematischer Unterernährung und unter der zu schweren Arbeit leidet, trifft einen Vorarbeiter, einen ehemaligen Professor der Artillerieakademie, der ihm vom Kriegsausbruch erzählt: »›Hören Sie‹, sagte Stupnizkij. ›Die Deutschen haben Sewastopol, Kiew und Odessa bombardiert.‹
    Andrejew hörte höflich zu. Die Mitteilung klang wie die Nachricht von einem Krieg in Paraguay oder Bolivien. Was hatte Andrejew damit zu tun? Stupnizkij war satt, er war Vorarbeiter – da interessierten ihn auch solche Dinge wie der Krieg.« 1
    In der Erzählung »Mai« tauscht derselbe Andrejew Brot gegen pulvergetränkte Sackleinwand ein; aus der Leinwand macht er sich Fußlappen (er ist erschöpft, und um zu überleben, muss er ins Krankenhaus); damit setzt er sich ans Feuer; die Fußlappen entzünden sich. Mit den erlittenen Verbrennungen bringt man den Häftling in einen Krankensaal.
    »Gegen Abend kam der Arzt ins Zimmer.
    ›Hört zu, meine Herren Zwangsarbeiter‹, sagte er, ›der Krieg ist zu Ende. Vor einer Woche war er zu Ende. Der zweite Kurier aus der Verwaltung ist hier. Den ersten Kurier, heißt es, haben Flüchtige erschlagen.‹
    Aber Andrejew hörte dem Arzt nicht zu. Er hatte Fieber bekommen.« 2
    Vom größten Tag der sowjetischen Geschichte, dem Tag des Sieges, erfährt man im Bergwerk an der Kolyma mit einer Woche Verspätung, und vor allem interessiert sich Andrejew – und unter diesem Namen ist die Erfahrung von Hunderttausenden Lagerinsassen versammelt, von denen nur wenige lebend zurückkehrten – weder für den Anfang noch das Ende des großen Krieges, der Millionen seiner Landsleute das Leben kostete. Er ist von »großer Gleichgültigkeit« ergriffen. Andrejew hat Wichtigeres zu tun: Brot besorgen, Sackleinwand kaufen, sich im Krankenhausbett von der mörderischen Lagerarbeit erholen. Die Wirkung des Krieges spürten die elenden Lagerinsassen höchstens im strengeren Regime, den gestiegenen Produktionsnormen (den »Kubik«, im Lagerjargon) und der gekürzten, ohnehin dürftigen Brotration.
2
    Die Geschichte ist (wie Walter Benjamin zutreffend schreibt) die Geschichte der Sieger, zumindest ist sie im Namen der Sieger geschriebene Geschichte. Schalamow sah seine Mission darin, die Geschichte der Besiegten zu schreiben. So radikal hat die historische Perspektive kein Autor vor oder nach ihm verändert. Nicht die Lager waren, wie das in Russland bis heute viele meinen, Teil des stalinschen »Mobilisierungsprojekts«, dessen Ziel der Sieg über den Faschismus war (und das große Ziel heiligt natürlich jedes Mittel), sondern der Krieg »spielt die Rolle der psychologischen Tarnung« für das sehr viel wesentlichere Thema des Lagers oder, weiter gefasst, das »Thema der Vernichtung des Menschen mithilfe des Staats«. In diesem Punkt war der Schriftsteller unerbittlich: »Das Lagerthema, weit gefasst, prinzipiell betrachtet«, schrieb er im Manifest »Über Prosa«, »ist die größte, die Kernfrage unserer Epoche. Ist denn die Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates nicht die Kernfrage unserer Zeit, unserer Moral, die in der psychologischen Verfassung jeder Familie Spuren hinterlassen hat? Diese Frage ist viel wichtiger als die Frage des Krieges. Der Krieg spielt hier in gewissem
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