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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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Sinn die Rolle einer psychologischen Tarnung (wir wissen aus der Geschichte, dass der Tyrann sich während des Krieges dem Volk annähert). Hinter der Kriegsstatistik […] will man das ›Lagerthema‹ verstecken.« 3
    Man erkennt leicht, dass aus der Sicht der Besiegten die massenweise Vernichtung von Menschen, ohne die das Projekt der Schaffung des »neuen Menschen« nicht zu realisieren war, nicht nur historisch, sondern auch logisch, vom Sinn her, dem Krieg vorausging. Der Krieg dient als Tarnung für das Wesentlichere und besorgt das »Reinwaschen« des Lagerthemas, lässt dieses als Werkzeug einer historischen Notwendigkeit, als notwendige Etappe der Vorbereitung auf den Krieg erscheinen. Wie aktuell und unannehmbar Schalamows Sicht, sein Konzept einer Geschichte der Besiegten noch immer ist, lässt sich daran ablesen, dass sich unter Präsident Medwedew seit Mai 2009 eine eigene Kommission mit »Geschichtsfälschungen zum Schaden Russlands« beschäftigt, die nicht nur aus Historikern besteht, sondern auch aus hohen Militärs, Vertretern der Polizei und der Geheimdienste. Ihr besonderer Augenmerk gilt der Abwehr von »antirussischen Verfälschungen« des Siegs des Sowjetvolkes im Großen Vaterländischen Krieg. Es ist durchaus möglich (zumindest warnen davor die Polittechnologen des Kremls), dass man sich für Äußerungen wie die oben zitierte bald strafrechtlich verantworten muss. Auch im heutigen Russland haben die Opfer des stalinschen Terrors, in deren Namen der Autor der »Künstler der Schaufel« und der »Skizzen der Verbrecherwelt« schrieb, im Grunde kein Recht auf ihre eigene Stimme – an ihrer Statt sprechen noch immer die Sieger und verurteilen Hunderttausende Lager
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zum Schweigen.
    Ausländer wundern sich oft: warum sprecht Ihr Russen vom Krieg, als wäre er gestern zu Ende gegangen und nicht längst ein Stück Geschichte des letzten Jahrhunderts?
    Die Antwort ist einfach: Der Sieg wird nicht zum historischen Ereignis werden, solange die russische Führung – als wie »kapitalistisch« sie sich auch deklarieren mag – zur eigenen Legitimation ein Regime noch braucht, das zuerst den GULag geschaffen und anschließend unter beispiellosen Opfern den Krieg gewonnen hat.
3
    »Künstler der Schaufel« wie auch »Skizzen der Verbrecherwelt« sind Bücher über die Moral, genauer, über den zwangsläufigen Verfall der Moral unter den Bedingungen des Lagers. Der freie Ingenieur schlägt die Häftlinge, der Intellektuelle wird zum »Romanisten« bei den Ganoven, der Brigadier prügelt den Plan mit dem Stock aus den erschöpften Menschen heraus. Das Lager ist wie eine Walze, die den Raum der totalitären Macht nivelliert und alle Unterschiede (der Nationalität, der Schicht, der Klasse, der Bildung) aufhebt. Schalamows Texten ist das Credo ihres Autors unauslöschlich eingeprägt: das Lager ist die Schule der absoluten Negativität, eine Erfahrung, von der der Mensch nichts wissen darf.
    Doch paradoxerweise hat Schalamow der literarischen Aneignung dieser unproduktiven, sterilen und, so könnte es scheinen, von niemandem gebrauchten Lagererfahrung sein Leben gewidmet.
    Und das ist nicht das einzige Rätsel seines Werks.
    An der Peripherie fast all seiner Lagererzählungen hausen Geschöpfe mit tätowierten Körpern, die eine besondere Sprache sprechen, umgeben von Anhängern, die bereit sind, jeden ihrer Befehle widerspruchslos auszuführen. Sie, die Mitglieder des »verfluchten Ordens«, arbeiten selbst nicht, sie bestehlen und berauben (vorwiegend durch ihre Handlanger) die anderen Häftlinge, spielen Karten bis zum vollständigen Sieg eines der Gegner und entziehen sich prinzipiell den Ansprüchen der Verwaltung.
    Eben sie, diese »Nicht-Menschen«, zwingen dem Lager ihr Gesetz auf; eben sie werden von unserem Autor am meisten gehasst. Schalamow fand einen Funken Menschlichkeit noch in der letzten Bestie aus der Lagerleitung, der Lagerversorgung oder Lagerwache, noch im brutalsten Brigadier, Arbeitsanweiser oder Barackendienst. Die einzigen, denen er sie entschieden absprach, sind die Ganoven, die Diebe im Gesetz, die schweren Jungs, die Paten, die Autoritäten. Schalamows Hass auf die Ganovenwelt hatte etwas Religiöses, bei der Berührung mit den Ganoven lebte in ihm, der der christlichen Religion fernstand, der unversöhnliche Geist des Protopopen Awakum auf. Die letzten Worte der »Skizzen« klingen wie ein Sturmläuten, wie eine Beschwörung: »Karthago muss zerstört werden! Die Welt
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