Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
unterstützt. Seine Frau weiß: das teurer gewordene Futter und die Steuern auf Kleinvieh machen diese Beschäftigung zum Verlust, doch sie wagt nicht, ihrem Mann das zu sagen, der immer der Ernährer der Familie war. Die arme kranke Frau müht sich ab, um sich und ihren Mann zu ernähren. Der älteste Sohn sagt sich, so verlangt es der Zeitgeist, öffentlich von seinem Vater, dem Geistlichen, los, um sich in den Augen der atheistischen Führung von der fremden »sozialen Herkunft« zu »befreien«; die Töchter sind arm; der jüngste Sohn schickt anfangs aus Moskau ein wenig Geld, aber »bald wurde er wegen seiner Teilnahme an einer Untergrund-Kundgebung verhaftet und verbannt, und seine Spur verlor sich« 14 .
    Dann ist alles schon verkauft, und an diesem Morgen ist kein Geld mehr da für Ziegenfutter. Der Geistliche lässt seine Frau das einzige Wertvolle bringen, das ihnen geblieben ist, »ein Brustkreuz mit einem kleinen Christus-Figürchen« 15 . Vor den Augen der erst schluchzenden und dann vor Kummer verstummenden Frau zerhackt der Geistliche das Kreuz mit den Worten »Ist denn darin Gott?«. Die Frau legt die Stücke in eine Schachtel. Jetzt hat die Familie für einige Zeit die Mittel zum Leben.
    Der Text hat eine autobiographische Grundlage. Die Prototypen des blinden Geistlichen und seiner Frau sind die Eltern Warlam Tichonowitsch Schalamows. Der jüngste Sohn, dessen Spur sich nach der Verhaftung verliert, ist der Autor selbst. Mit dem goldenen Kreuz hatte man Tichon Schalamow, den Geistlichen aus Wologda, für seine langjährige Missionstätigkeit in Alaska ausgezeichnet.
    Eine direkte Beziehung zu den Schrecken der Kolyma scheint diesem Text zu fehlen, seine Handlung liegt Anfang der 30er Jahre (der blinde Geistliche starb 1933, seine Frau 1934, noch vor Beginn des Großen Terrors). Aber man spürt schon in jeder Zeile der Erzählung jene unmenschliche, alle moralischen Barrieren hinwegfegende Kraft, aus der bald die Massenrepressionen wie die Konzentrationslager, die Bestialitäten der Lagerleitungen und die unanfechtbare Macht der Ganoven über die Lagerinsassen hervorgehen werden. Der Geistliche, der aus Verzweiflung über die hoffnungslose Armut sein Kreuz zerhackt, das Christusfigürchen, das sich unter den Hieben seines Beils in Stücke Gold verwandelt – wie könnte man anschaulicher den Bruch mit einer Welt wiedergeben, in der noch das transzendente, göttliche Prinzip herrschte!
    Der Imperativ der Autors Schalamow ist klar: wo man Gott schon nicht mehr retten kann, muss man umso sorgsamer die Spuren seiner Gegenwart bewahren, das, was von ihm geblieben ist – die menschliche Moral.
    Die Quelle der stoischen Treue zum moralischen Gesetz, die sich der Schriftsteller unter den unerträglichen Verhältnissen an der Kolyma bewahrte, die Wurzeln seines leidenschaftlichen, unversöhnlichen Hasses auf die Welt der Ganoven liegt eben hier, in der Geschichte seiner Familie, in der gotteskämpferischen Geste des verzweifelten Vaters.
    Moskau – Berlin, September – Oktober 2009

Glossar
    Ältester – russ.:
starosta
(von russ.: staryj – alt); gewählter Vertreter der Häftlinge; die Wählbarkeit war seit der Zarenzeit Tradition, wurde aber unter Jeshow (siehe Glossar) im Sommer 1938 abgeschafft.
    »am Hügel« – euphemistisch für den Friedhof.
    American Relief Administration – nach 1915 gegründete amerikanische Hilfsorganisation American Relief Administration für Flüchtlingshilfe und zur Bekämpfung von Hunger in der Welt; die Organisation schickte Anfang der zwanziger Jahre auch Pakete in die von Hunger betroffenen Gebiete der Sowjetunion.
    Andronikow – Iraklij (Andronikov; 1908-1990); russischer Literaturwissenschaftler und Schriftsteller; war in der Sowjetunion auch durch seine öffentlichen Leseabende sehr populär.
    Anrechnung der Arbeitstage – in der sowjetischen Strafgesetzgebung der 1930er Jahre war es im Kontext der Umschmiedung (siehe Glossar) vorgesehen, daß den Häftlingen die Arbeitstage angerechnet werden konnten, wodurch sich die Haftzeit reduzierte.
    Artikel 35 – der Paragraph des Strafgesetzbuches der RSFSR von 1926 sah die Zwangsumsiedlung für einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren vor Personen vor, die Verbrechen begangen hatten; sollte die Regelung als zusätzliche Maßnahme nach dem Freiheitsentzug Anwendung finden, so galt die Maßnahme ab dem Ende der Haftzeit.
    Artikel 58 – berüchtigter Paragraph des sowjetischen Strafgesetzbuches, der eine Verurteilung
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher