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Kuckucksmädchen

Kuckucksmädchen

Titel: Kuckucksmädchen
Autoren: Eva Lohmann
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gegenseitig ausschließen. Kein leichter Stoff für einen Montagmorgen, an dem ich sowieso schon spät dran bin.
    Etwas benommen schließe ich die Haustür hinter mir. Das Herz in mir schweigt. Gemeinsam hängen wir unserem seltsamen Wortwechsel nach, der sich anfühlt wie der erste von vielen. Doch für den Moment will keiner das nächste Wort haben, und so lauschen wir stumm vor uns hin, während ich auf Zehenspitzen zur Arbeit laufe.
    Der Teppichboden meiner Großeltern ist seit zwanzig Jahren moosgrün und pflegeleicht. Trotzdem durfte niemand ihn jemals mit Schuhen betreten. Dreißig Jahre lang habe ich im gekachelten Vorflur meine Schuhe ausziehen und gegen die doppelt gestrickten Wintersocken tauschen müssen, die meine Großmutter in den verschiedensten Größen in einer Kiste bereithielt. Und obwohl es nun wirklich überhaupt keinen Grund mehr gibt, den Boden zu schonen, stehe ich auch jetzt noch in dicken Socken auf dem Teppich im Wohnzimmer.
    Der Teppichboden ist so etwas wie der letzte Vorhang einer gelungenen Wohnungsauflösung. Nach unserem Gastspiel in fremden Häusern und Wohnungen ziehen wir ihn ab, wenn alles andere getan ist, und schmeißen ihn in großen Rollen ganz oben auf die überfüllten Container. Vielleicht deswegen will ich ihn noch eine Weile schonen. Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass die Geschichte meiner Großeltern zu Ende sein soll. Wenn der Teppich weiterhin gepflegt aussieht, wenn ich mich weiterhin an die Regeln halte, die in diesem Haushalt in den letzten dreißig Jahren gegolten haben, dann ist vielleicht noch nicht alles vorbei. Auch wenn dieser Haushalt nun seit dreieinhalb Monaten von niemandem mehr geführt wird.
    Die Wohnung verstorbener Verwandter aufzulösen ist das Unprofessionellste, was man in meiner Branche machen kann. Von dieser Idee werden einem auch die härtesten Abrissunternehmer abraten. »Geh rein, hol dir die Sachen raus, an denen dein Herz hängt, und lass den Rest die anderen machen«, sagen selbst die Jungs mit dem Vorschlaghammer. »Die abgerissene Schrankwand deiner eigenen Großmutter hinterlässt fast immer fiese Splitter in der Seele.« Trotzdem werde ich gefragt, immer wieder. Wie ein Computerfachmann den Rechner seiner Nichte reparieren soll und eine Physiotherapeutin die Wirbelsäule ihrer Eltern befühlen muss, werde ich regelmäßig gebeten, mich um die Wohnungen verstorbener Verwandter zu kümmern. Viele Jahre habe ich es erfolgreich abwehren können. Ich weiß nicht, warum ich bei meinen Großeltern nicht Nein sagen konnte. Vielleicht, weil es dieses Mal mein eigener Vater war, der mich darum gebeten hat. Und weil ich, wie die meisten Töchter und Söhne, darauf brenne, meinem Vater endlich mal zu zeigen, was ich kann.
    Seine Eltern starben kurz hintereinander. Als Erstes starb mein Großvater. Er hatte es lange gewusst und kurz vorher angekündigt, hatte Abschiedsbriefe geschrieben, Nachlässe geordnet, letzte Besuche empfangen. Dann hatte er sich ins Bett gelegt, die Hände überm Bauch gefaltet und gewartet, bis der Krebs unter diesen Händen ihn auffraß. Sein Tod hatte etwas Organisiertes. Zögerlich, aber doch zeitnah starb meine Großmutter. Sie war nicht ganz so resolut, sie haderte ein wenig, aber schließlich strickte auch sie ihr letztes Paar Socken zu Ende, brauchte die wenigen Vorräte aus dem Keller auf und folgte ihrem Mann, so, wie sie es immer getan hatte.
    Frauen sind in meiner Branche selten. Haushaltsauflösungen sind ein hartes, ein raues Gewerbe. Oft wird es von unfreundlichen, groben Männern betrieben, die kaugummikauend und mit einem billigen Plastikkugelschreiber in der Hand durch die Räume der Verstorbenen schlendern, abschätzig den Kopf schütteln und immer wieder das Gleiche sagen: »Hier ist nix mehr zu holen«, »Das alte Ding will doch keiner mehr haben« oder »Da müssen Sie mir aber was draufzahlen, dass ich den Schrott noch hier abhole«.
    Diese Sätze sprechen sie schulterzuckend in die Gesichter von Menschen, denen wahlweise gerade die Eltern gestorben sind oder deren Partner sie nach Jahren verlassen haben. Manchmal stecken sie auch mitten in einer finanziellen Pleite. Die Gründe für Haushaltsauflösungen sind nicht besonders vielfältig. Aber sie sind fast immer traurig. Und dann werden diese Menschen auch noch von groben Männern
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