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Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
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an.
    Gott segne das Internet.
    Keine Ahnung, wie lange ich da stehe, wie lange das Vieh bellt. Wie lange mir der Angstschweiß den Rücken runterläuft.
    Irgendwann pfeift es.
    Jemand.
    Der Köter folgt dem Pfiff.
    Oben am Hügel sehe ich gegen die Sonne die Silhouette einer Gestalt.
    Höre ich ein Lachen? Ein Lachen, das ich kenne?
    Ach was, auditive Halluzinationen. Kommt von den Endorphinen. Oder dem Adrenalin. Wahrscheinlich von dem Schreck.
    Langsam trabe ich weiter.
    Mein Puls geht von zweihundertzwanzig wieder runter auf hundertzehn oder so was.
    Ich bin erleichtert.
    Und wütend.
    Nach der Alptraumnacht so ein beschissener Morgen!
    Man könnte wirklich paranoid werden.
    Nach zweieinhalb Stunden bin ich um den See und komme wieder am Bushäuschen gegenüber der Kirche von Tal an. Die Trinkflasche steht noch da. Unberührt. Ist doch alles in Ordnung. Alles nur meine Nerven. Ich jogge die restlichen drei Kilometer hinauf zur Alm.
    Wenn ich gehen würde, wäre ich schneller.
    Eine Sache der Ehre.
    Geschafft.
    So ein langer Lauf tut gut. Wenigstens das kann ich noch. Laufen ist so beruhigend wirklich, so wirklich wie der See und die Berge und der Schweiß und die Verdauung und der Durst. Die Wirklichkeit heilt die Angst.
    Für eine Stunde.

Sauwohl
    Pfeif auf den erhängten Pfarrer und auf die Schafkopfer und auf die Kirche und auf die Hunde und auf die Alpträume. Alles vorbei.
    Jetzt geht’s ans neue Leben.
    Eine neue Angst kommt.
    Eine neue Angst ist wie ein neues Leben. Nananananana. Frei nach Jürgen Marcus. Was einmal war, ist vorbei und vergessen und zählt nicht mehr.
    Die neue Angst ist die, ob ich dastehen werde wie ein alter Depp, der sich was einbildet.
    In Kempten.
    In der Redaktion vom Kemptener Tagblatt, das eingelegt ist in die Allgäuer Rundschau.
    Ich starte meine Traumkarriere.
    Schon als Schüler wollte ich Journalist werden. Schreiben.
    Brotlose Kunst.
    Sagten meine Eltern.
    Studierte Theologie. Da kann man auch schreiben. Predigten.
    Brotvolle Kunst. Brot des Lebens.
    Ernährt hat es mich bis jetzt.
    Aber jetzt ist es so weit.
    Schreiben. Echt schreiben.
    Mit fünfundsechzig.
    Gefühlte fünfunddreißig.
    Ich schwinge mich auf mein Fahrrad. Satteltaschen drauf. Manuskripte rein. Ich werde beim Kemptener Tagblatt anheuern.
    Mein wahres Talent steht vor dem Durchbruch.
    Drei Bestseller, und ich brauch nicht mehr zu schreiben.
    Aber was tu ich dann?
    Der Weg nach Kempten geht bergab. Immer bergab. Ich und mein Mountainbike. Meine Psychose, mein Fahrrad und ich. Buch von Fritz Simon. Zur Selbstorganisation der Verrücktheit. Wir rollen nach Kempten. Rollen Kempten von hinten auf.
    Zur Vorbereitung auf meine Karriereverhandlungen kaufe ich die Montagsausgabe der Allgäuer Rundschau. Blättere durch. Bis ich zur Einlage komme: Kemptener Tagblatt. Auf einer Parkbank am Ufer der eisgrünen Iller. Lese:
    »Tal. Vor der heiligen Sonntagsmesse wurde gestern in Tal der Pfarrer in der Kirche tot aufgefunden. Notarzt und Ambulanz konnten ihn nicht mehr wiederbeleben. Wie aus gut unterrichteten Kreisen zu erfahren, war er einem plötzlichen Herztod erlegen. Die Gemeinde reagierte schockiert. Bei dem Verstorbenen handelt es sich um Monsignore Theodor Amadagio. Er amtierte seit drei Jahren in den Gemeinden Tal, Obertal und Untertal. Die Betreuung der verwaisten Gemeinden wird Pfarrer Xaver Maria Guggemoos aus dem benachbarten Marktl übernehmen, bis ein Nachfolger gefunden ist.«
    So, so.
    Ich blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen. Ich wollte nicht so verschwitzt in der Redaktion erscheinen. Als hätte ich es eilig. Als wollte ich was.
    Der Chefredakteur hockte vor einem PC . Einen anderen Redakteur gab es nicht. War jedenfalls nicht zu sehen. Seinen Namen kannte ich aus der Zeitung. Magnus Augstein. Das war kein Name. Das war ein Symptom. Narzissmus. Wahnhafte Selbstüberschätzung. Er schaute nicht einmal auf, als ich eintrat. Sagte:
    »Ja?«
    Der Typ war halb so alt wie ich. Zwischen dreißig und vierzig. T-Shirt. Jeans. Ich hatte wenigstens ein Hemd angezogen. Noch mal das weiße. Die Spitzen der geschnittenen Haare von gestern Abend piksten mich in den Hals.
    »Grüß Gott.«
    »Und?«
    Arschloch, dachte ich.
    Ich sagte:
    »Ich wollte mich mal vorstellen … Bär. Emil Bär. Dr.   Emil Bär.«
    »Und was wollen S’?«
    »Ich bin neu zugezogen hier. Aus Würzburg. Ich schreib gerne.«
    »Ich nicht.«
    »Umso besser. Ich hab auch schon für die Würzburger Nachrichten geschrieben.«
    Er tippte ohne
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