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Kristall der Träume

Kristall der Träume

Titel: Kristall der Träume
Autoren: Barbara Wood
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Sonnenuntergang kamen sie zurück. Es gab kein Vorwärtskommen, berichteten sie. Der Schnee hatte alle Wege blockiert.
    Schätzungsweise um den 5. Dezember herum begannen die Auswanderer, ihre letzten Rinder zu schlachten, sofern diese sich nicht in den Schneestürmen verirrt hatten und im Schnee erfroren waren. Und nach weiteren erfolglosen Versuchen, Wild zu jagen, beschlich die Menschen eine neue, schreckliche Befürchtung: Wenn sie hier für den Winter gestrandet waren, würden sie nicht genug Nahrung zum Überleben haben.
    Sie fanden Charlie Benbows Ehefrau Florine erfroren unter ihrer Schlafdecke. Da der Boden zu hart war, um ein Grab zu schaufeln, wickelte man sie in ein Laken und bettete sie zwischen zwei Planken, die mit Steinen beschwert wurden.
    Ein weiterer Versuch der Passüberquerung, diesmal mit den Frauen, wurde von einem neuen Schneesturm vereitelt.
    Zusammengekauert hockten die Menschen in ihren dürftigen Zelten und Zweighütten, frierend und müde, und versuchten sich an Feuern zu wärmen, die immer kleiner wurden, weil sich kaum noch trockenes Brennholz fand. Bibeln, die sonst der geistigen Erbauung dienten, wurden jetzt zur körperlichen Erbauung verbrannt, so wie alles andere, das sich nicht anziehen oder essen ließ. In dumpfer Verzweiflung sahen sie die Psalter, das Hohelied Salomos, die Evangelien und die Briefe des Apostel Paulus in Rauch aufgehen.
    Die Kinder wurden in die dicksten Decken gewickelt und schliefen Seite an Seite mit den wenigen verbliebenen Hunden, die sie wärmten. Frische Schneefälle während der Nacht begruben ihre versteckten Fleischvorräte, und sie brauchten einen ganzen Tag, um das Fleisch mit Hilfe langer Stöcke wieder zu finden. Tags darauf waren die Fleischvorräte ganz verschwunden, Wolfsspuren führten vom Lager weg. In einem Anfall verzweifelten Mutes, der zum größten Teil von dem nagenden Hunger herrührte, beschloss Silas Winslow, den Pass alleine zu erklimmen und Rettung für das Camp zu holen. Zwei Tage später fanden sie ihn, noch am Leben, aber schneeblind. Sie schafften ihn ins Camp zurück und verbanden ihm die Augen mit Kattun, um weitere Schäden zu verhindern. Immerhin rang Silas Winslow sich noch die witzige Bemerkung ab, er hoffe, sein Augenlicht bald zurückzugewinnen, denn wozu sei ein blinder Fotograf wohl gut? Emmeline gab sich alle Mühe, die Gesellschaft bei Laune zu halten. Sie stimmte Lieder an, erzählte Geschichten und fragte alle nach ihren Vorhaben in Oregon. Einige Abende lang gelang ihr die Ablenkung, doch dann setzte die Kälte den Menschen derartig zu, dass sie nur noch mit klappernden Zähnen in ihre Decken gehüllt dasaßen und alle Gespräche verstummten.
    Wie bei seinen Mitstreitern wuchsen auch Matthews Ängste mit jedem Tag, denn ein lähmender Schrecken lag in der Luft. Die gesamte Landschaft – die Felsen, die Kiefern und der kleine See –
    ruhte unter einer dicken Schneedecke. Kein Vogel, kein Fisch, keine Kiefernzapfen zu entdecken. Wenn ihre letzten Vorräte ausgingen, würden sie sich etwas einfallen lassen müssen. Matthew hielt den blauen Kristall Tag und Nacht in seiner behandschuhten Hand. Der Hungertod rückte immer näher. Die Eingeschlossenen litten allesamt unter Erfrierungen. Als auch die gute alte Daisy ihr Leben lassen musste, stürzte Sean Flaherty in seinem Kummer aus dem Zelt und versuchte, sich an einem Baum aufzuhängen. Doch der gefrorene Ast brach ab, und die Männer holten Flaherty ins Zelt zurück.
    Der blaue Kristall hielt keine Antwort bereit, egal, wie inbrünstig Matthew in sein Inneres starrte. Er spürte nichts von der spirituellen Kraft, die dem Stein angeblich innewohnte, und vernahm keine von einem Geisteratem gehauchte Antwort.
    Am Ende hatten sie nichts mehr zu essen. Sie begannen, Häute auszukochen, Pelzdecken in Stücke zu schneiden und zu rösten; sie buken Schnürsenkel in der Glut und nagten an mit Pfeffer gewürzten Knochen. Zum ersten Mal sprachen sie kein Dankgebet.
    Sie wurden immer schwächer. Sie träumten vom Essen.
    Wahnsinnig vor Hunger, stürzte einer der Männer aus dem klammen Zelt und wurde Stunden später tot im Schnee gefunden. Sie ließen ihn liegen, sollten die Schneewehen ihn zudecken. Charlie Benbow fing an, Gespräche mit seiner toten Frau Florine zu führen. Matthew und Emmeline schliefen eng aneinander geschmiegt, ohne jeden Gedanken an körperliche Intimitäten. In der Umarmung fanden sie Trost und Wärme.
    Am Weihnachtsmorgen tobte ein neuer Schneesturm.
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