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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
Autoren: Orlando FIGES
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müssen. Ich hoffe, dass diese Seiten zu einer neuen Einschätzung der Wichtigkeit des Krieges beitragen werden: als eines entscheidenden Wendepunkts in der Geschichte Europas, Russlands und des Nahen Ostens, dessen Konsequenzen noch heute zu spüren sind. Hier gibt es keinen Platz für die verbreitete britische Meinung, dass es sich um einen »sinnlosen« und »unnötigen« Krieg gehandelt habe – ein Gedanke, der von der Enttäuschung der Öffentlichkeit über den schlecht organisierten Feldzug und dessen damals begrenzte Resultate herrührt und der seitdem einen so abträglichen Einfluss auf die historische Literatur gehabt hat. Lange Zeit von den Wissenschaftlern als ernsthafte Thematik vernachlässigt und häufig verspottet, ist der Krimkrieg überwiegend britischen Militärhistorikern überlassen worden, also in vielen Fällen laienhaften Enthusiasten, die immer wieder die gleichen Geschichten (die Attacke der Leichten Brigade, die Pfuscharbeit der englischen Befehlshaber, Florence Nightingale) nacherzählen. Dabei kommt es kaum je zu einer seriösen Untersuchung der religiösen Ursprünge des Krieges, der komplexen Politik der Orientalischen Frage, der christlich-muslimischen Beziehungen in der Schwarzmeerregion oder der Auswirkungen der europäischen Russophobie, ohne die sich die wahre Bedeutung des Konflikts kaum ermessen lässt.
    Der Krimkrieg markierte eine historische Zäsur. Durch ihn zerbrach die alte konservative Allianz zwischen Russland und den Österreichern, welche die bestehende Ordnung auf dem europäischen Kontinent gestützt hatte, woraufhin sich neue Nationalstaaten in Italien, Rumänien und Deutschland herausbilden konnten. Er ließ die Russen mit einem tiefen Groll gegenüber dem Westen zurück, einem Gefühl, Opfer eines Vertrauensbruchs zu sein, weil die anderen christlichen Staaten Partei für die Türken ergriffen hatten. Hinzu kamen ihre enttäuschten Ambitionen auf dem Balkan, welche die Beziehungen zwischen den Mächten noch in den 1870er Jahren destabilisieren und die Krisen bewirken sollten, die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten. Dies war der erste große europäische Konflikt, in den die Türken einbezogen waren, wenn wir ihre kurze Beteiligung an den französischen Revolutions- und Napoleonischen Kriegen außer Acht lassen. Durch ihn öffnete sich die muslimische Welt des Osmanischen Reiches westlichen Armeen und Technologien, er beschleunigte ihre Integration in die globale kapitalistische Wirtschaft und löste eine islamische Reaktion gegen den Westen aus, die sich bis heute fortsetzt.
    Jeder Staat hatte beim Eintritt in den Krimkrieg seine eigenen Motive. Nationalismus und imperiale Rivalitäten verbanden sich mit religiösen Interessen. Für die Türken ging es darum, ihr zerbröckelndes Reich in Europa zu retten, ihre Souveränität gegen die Ansprüche Russlands, es repräsentiere die orthodoxen Christen des Osmanischen Reiches, zu verteidigen und die Drohung einer islamischen und nationalistischen Revolution in der türkischen Hauptstadt abzuwenden. Die Briten behaupteten, sie zögen in den Krieg, um die Türken vor den Schikanen Russlands in Schutz zu nehmen, doch in Wirklichkeit wollten sie dem Russischen Reich, das sie als Rivalen in Asien fürchteten, einen Schlag versetzen und den Krieg nutzen, um ihren eigenen Freihandel und ihre religiösen Interessen im Osmanischen Reich zu fördern. Für den französischen Kaiser Napoleon III . war der Krieg eine Gelegenheit, Frankreich im Ausland wieder Respekt und Einfluss zu verschaffen, wenn nicht gar den Ruhm, den es unter der Herrschaft seines Onkels genossen hatte, und vielleicht die Grenzen Europas als einer Familie liberaler Nationalstaaten nach dem von Napoleon I. geplanten Muster neu zu ziehen; andererseits hatte der Einfluss der Katholiken auf sein schwaches Regime zur Folge, dass er auch aus religiösen Gründen gegen die Russen kämpfen musste. Für die Briten und Franzosen handelte es sich um einen Kreuzzug zur Verteidigung der Freiheit und der europäischen Kultur gegen die barbarische und despotische Bedrohung durch Russland, dessen aggressiver Expansionismus eine reale Gefahr nicht nur für den Westen, sondern auch für die gesamte Christenheit darstellte. Was den Zaren Nikolaus I. betraf, den Mann, der mehr als jeder andere für den Krimkrieg verantwortlich war, so wurde er teils von übertriebenem Stolz und von Arroganz – ein Resultat seiner 27-jährigen Herrschaft – angetrieben, teils durch
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