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'Krieg ich schulfrei, wenn du stirbst'

'Krieg ich schulfrei, wenn du stirbst'

Titel: 'Krieg ich schulfrei, wenn du stirbst'
Autoren: Jess Jochimsen
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gäbe. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, wie Tom eines Tages beschloss, dass »Geld gar nicht so wichtig« sei, und an die Woche, in der er mir das bewies.
    »Eine Woche überlebe ich locker ohne euer Geld, Papa«, sagte er, und freches Schnorren, noch frechere Straßenmusikdarbietungen, charmantes Betteln in der Innenstadt sowie das Plündern des ein oder anderen Hotel-Buffets waren dabei noch die weniger aufregenden Dinge, die er tat.
    Dann erinnere ich mich an den Tag, an dem Tom unbedingt mal auf eine Beerdigung wollte, weil er noch nie eine erlebt habe, und wie er so lange auf dieser fixen Idee beharrte, bis wir dann tatsächlich zu Anschauungszwecken die Trauerfeier eines wildfremden Menschen besuchten. Ich erinnere mich, wieTom diese Abschiednahme schnell zu langweilig wurde und wie er es durch penetrantes Nachfragen (»Hat der ein Kopfkissen in seinem Sarg?«) schließlich schaffte, mich vor Scham fast im Boden versinken zu lassen und gleichzeitig die Trauergesellschaft derart zu erheitern, dass wir zum Leichenschmaus eingeladen wurden und der Pfarrer fragte, ob Tom nicht öfter kommen könne.
    Natürlich erinnere ich mich weiterhin an die unzähligen Male, die wir zu Hause Verstecken spielten, Tom die dümmsten Verstecke der Welt wählte und ich so tun musste, als fände ich ihn nicht; erinnere mich, wie wir fast verzweifelt wären an den zu erlernenden komplexen Fähigkeiten »Schuhebinden« und »Uhrlesen« und dass die einfachen Auswege letztlich »Klettverschluss« und »Digitalanzeige« hießen; erinnere mich, wie ich früher ihn beim Fußball gewinnen ließ und er heute mich und dass mich das rasend macht; überhaupt machte mich vieles oft rasend und sauer und wütend, und nicht selten lieferte Tom gute Gründe dafür; ich erinnere mich an Tage, an denen ich ihn am liebsten einfach nur in den Senkel und anschließend in die Ecke stellen wollte, was ich dann aber doch nie tat – und das Schlagen von Kindern in Deutschland wurde ja durch die Neufassung von Art. 1631 BGB gesetzlich verboten (im Jahre 2000, gerade noch rechtzeitig vor Toms Geburt, Glück gehabt, Sohn)!
    An all das erinnere ich mich, und auch daran, dass ich eigentlich vorhatte, viel mehr Strichpunkte in meine Texte einzubauen, weil ich dieses Satzzeichen so liebe und Tom es bis heute nicht kapiert, aber einen seiner wunderbarsten Lachanfälle bekam, als er erfuhr, dass der Plural von »Semikolon« »Semikola« lautet, was ihn wiederum bis heute daran erinnert, dass es Wichtigeres als Deutschhausaufgaben gibt, nämlich immer wieder neue (meist erfolgreiche) Wege zu finden, seinem Vater »ein verbotenes Getränk« herauszuleiern.
    Allein, irgendwann ist es auch wieder gut mit Erinnern und Berichten, schließlich gibt es noch anderes, über das man schreiben kann. Vielleicht liegt mein Entschluss, erzählerischen Abschied zu nehmen, auch daran, dass es auf Toms neuer weiterführender Schule nicht mehr so lustig ist wie bisher, nicht mehr so spielerisch, dass Begriffe wie »Druck« und »Leistung« auf einmal plastisch werden, von »Pubertät« ganz zu schweigen.
    Den letzten Ausschlag aber gab, so glaube ich, der neue Direktor, der in seiner »Antrittsrede« davon sprach, dass es für die Kinder von nun an darum gehe, fleißig zu sein, sich durchzusetzen und besser zu werden, um sich schlussendlich – »Schwarmintelligenz hin oder her« – zu einem »Falken zu entwickeln«, der »wissend und stolz seine Kreise zieht«, und nicht darum, »einfach in der Schar weiterzufliegen«.
    Wie unglaublich schäbig, dachte ich, als ich das hörte, aber ich dachte auch: Den kriegen wir schon noch klein, wäre doch gelacht, Tom schafft das, er hat Mut, einen gesunden Menschenverstand, Freunde und – ja, auch dies – Eltern.
    Und an die Krammetsvögel dachte ich. Das sind flinke Flieger, die man nur in Scharen sieht und die sich gegen ihren größten natürlichen Feind, den Falken, derart zur Wehr setzen, dass sie sich blitzschnell, und immer im Schwarm, in die Lüfte erheben und dann wie auf Kommando ihre Exkremente fallen lassen und dem Falken so das Gefieder verschmutzen und ihn zur Strecke bringen. Anders gesagt: Sie scheißen ihn zu!
    Das wird schon, dachte ich, das wird alles schon, wenn du Hilfe brauchst, Tom, ich werde da sein. Und dann kam mir ein Ausspruch in den Sinn, der mir schon oft verlässlicher Orientierungspunkt meiner Rabenvaterschaft war, ein Ausspruch, der diesem Buch bereits als Motto voransteht und der wahlweise Johann
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