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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg
Autoren: Diane Broeckhoven
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achtgeben müsse.
    Nachts träumte ich, ich führe schnaufend neben den Gleisen entlang. Auf dem Gepäckträger saß ein kleiner Junge, die Beine weit von sich gestreckt, mit einem Karohemd und dunklen Löckchen. Seine nackten Füße tauchten links und rechts in meinen Augenwinkeln auf.
    Er sang mit der Stimme eines erwachsenen Mannes. Ich erkannte das
Stabat Mater
von Pergolesi, aber das Singen hörte abrupt auf, als ich das Kind auf die Holzbank setzte und davonrannte. Am Ende des Bahngleises drehte ich mich um. Da sah ich, wie ein schnurrbärtiger Bahnhofsvorsteherden Jungen hochhob und unsanft in einen Güterwaggon schob. Ein Viehwagen war es, wie ich sie in Kriegsfilmen gesehen hatte. Ich hörte, wie die Tür zugeschoben und verriegelt wurde, wie das Singen zögerlich wieder begann. Ein suchendes Händchen lugte zwischen einem Bretterspalt hervor …
    Mein Mund war wie ausgetrocknet, als ich aus meinem Traum aufschreckte. Es war vier Uhr, und ich wagte es nicht, mich noch einmal dem Schlaf hinzugeben. Also stand ich auf und ging nach unten.
    Ich stellte eine der Leinwände auf die Anrichte in der Küche. Drückte mehrere Häufchen Ölfarbe aus den Tuben auf ein Frühstücksbrett. Die Pinsel legte ich fein säuberlich nebeneinander. Dann schlüpfte ich in eine geblümte Kittelschürze meiner Oma, die im Besenschrank hängen geblieben war. Sie war mir viel zu eng. Also drehte ich sie um, ließ die Knöpfe auf dem Rücken einfach offen. Wie eine Besessene, von einer unheilvollen Stille umgeben, habe ich in jener Nacht mein erstes Gemälde gemalt. Ich besitze es noch heute.
    In grellen, unverfälschten Farben ließ ich meine Dämonen auf die Leinwand los: Krapplack. Permanentrot. Van-Dijk-Braun. Gebrannte Siena. Sepia. Karmesinrot. Purpurrotes Alizarin. Zinnober. Siena natur. In dicken Schichten, einander überlagernd, sich beißend oder vermengend, schmelzend oder verdampfend. Mein zerrissener Körper, der violette Polyp, die nächtliche Radtour, der Geruch frischen Brotes und von warmem Gras, dasblütenweiße Handtuch mit dem Monogramm, das blutige Badewasser, der Weidenzweig mit seinen wurmförmigen Fortsätzen, die zerbrochene Eierschale, Strickmaschen von den Pullovern meiner Mutter, die ädrige Fleischschnur, der Handabdruck auf meinem Oberschenkel, dunkel wie eine Gewitterwolke, mein kleiner Ertrinkender … ein einziger tobender Orkan aus Farbe und Wut und Verzweiflung.
    Bei jeder ausholenden Geste, mit der ich die Klümpchen Farbe auf die Leinwand klatschte, dachte ich an meinen Vater. An seine rosafarbenen und goldenen Kritzeleien, seine Strichellinien, seine Kekse, in denen man jede Rosine einzeln zählen konnte, an seine gewölbten Kopfsteinpflaster auf Wegen ohne jegliche Perspektive, an seine Welt von der Größe einer Briefmarke.
    Meine würde größer sein und nicht von einem Zickzackrand begrenzt. Groß und leidenschaftlich wollte ich mein Leben leben. Unbegrenzt. Das nahm ich mir in jener Nacht vor, als ich erschöpft wieder in mein Bett sank, umgeben vom starken Geruch der Farbe und der Befreiung.
    Was den Ostermontag betrifft, erinnere ich mich vor allem an meine guten Vorsätze. Gegen Mittag lieh ich mir von meinem Vater ein paar Bücher über Maltechniken. Es freue ihn, dass ich mich endlich wieder für etwas begeistern könne, sagte er. Ich hätte in der letzten Zeit irgendwie einen schlaffen Eindruck auf ihn gemacht. So ohne Elan. Ob ich einen Kaffee wolle? Im Stehen trank ich eine Tasse, die erste seit Monaten. Wie gut das schmeckte!
    Auf dem Rückweg fuhr ich mit dem Rad an Frau Mortelmans Haus vorbei. Einer Eingebung folgend, nahm ich meinen Mut zusammen und klingelte. Sie musste meinen Körper sehen, bevor er wieder seine alte Form annahm. Der «Mops» trug einen Rolli und eine Jogginghose mit weißen Streifen an den Seiten. Etwas Spinnwebe lag auf ihrem Haar. Sie wirkte nicht wie die unnahbare Lehrerin mit der adretten Bluse, die ich von der Schule her kannte.
    «Ich entrümpele gerade den Dachboden», sagte sie, «und wollte eben ein Päuschen machen.» Forschend blickte sie mich an. Was war es nur, was sie an mir sah? Hatte ich abgenommen? War ich krank?
    Ich tischte auch ihr die Geschichte von meiner Magen-Darm-Grippe auf. «Jetzt geht es mir schon wieder besser», sagte ich, «aber ich habe dadurch ein paar Kilo abgenommen. In nur ein paar Tagen. Da ich ja nun weiß, wie leicht das geht, denke ich über eine Diät nach. Habe mich in letzter Zeit etwas gehen lassen. Zu viele
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