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Kopf Unter Wasser

Kopf Unter Wasser

Titel: Kopf Unter Wasser
Autoren: André Kubiczek
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und ihm war klar, wie sehr sich Johanna erschrecken würde, träte er hervor, denn sie wusste ja nicht, warum er dort hockte.
    Beim zweiten Mal waren auch Flo und Finn dabei, und wieder brachte es Henry nicht fertig, sich zu zeigen.
    Er fiel stattdessen in eine Apathie, die monatelang anhielt, die ihn das Weihnachtsfest allein und fast reglos auf dem Sofa verbringen ließ, die verhinderte, dass er auch nur einen verwertbaren Satz schrieb, dass er sich bei den wenigen verbliebenen Freunden meldete oder auch nur bei seinen Eltern. Selbst Johanna zu sehen verspürte er keine Lust mehr.
    Erst im folgenden Frühjahr, einen Monat vor Johannas fünftem Geburtstag, erwachte Henry aus seiner Starre wie ein Tier aus dem Winterschlaf.
    Er kaufte einen Blumenstrauß und einen Plüschelefanten, er rasierte sich, zog einen hellen Anzug an und machte sich an einem Sonntagmorgen auf den Weg zu Birtes Wohnung. Er wollte diesmal klingeln, statt im Versteck zu lauern, er wollte sich entschuldigen, und er war bereit, jede ihrer Bedingungen zu akzeptieren, wenn er im Gegenzug Johanna sehen dürfte, und sei es unregelmäßig oder unter Aufsicht.
    Als er an der Hofeinfahrt stand, den Zeigefinger schon ausgestreckt, um zu klingeln, merkte er, dass ihm die Hand zitterte. Er steckte sich eine Zigarette an und ging einmal um den Block. Danach probierte er es noch einmal. Er suchte mit den Augen Birtes Namen auf dem Klingelbrett, er war so lange nicht mehr hiergewesen, dass er vergessen hatte, an welcher Stelle unter den dreißig anderen Namen er ungefähr suchen musste. Es gelang Henry nicht, er nahm den Zeigefinger zur Hilfe, seine Hand zitterte noch immer. Er fuhr Zeile um Zeile ab, aber er fand Birtes verdammte Klingel nicht. Dann hörte er Schritte in der Toreinfahrt, und wenig später öffnete eine Mieterin, den Hund an der Leine, die Hoftür von innen und ließ ihn ein.
    Henry stieg zwei Treppen des Hinterhausaufgangs hoch, dann befreite er den Blumenstrauß vom Einwickelpapier und nahm den Plüschelefanten aus der Plastiktüte. Im Treppenhaus roch es wie immer nach Katzenpisse und billigen Zigarillos. Der ganze Aufgang dröhnte von der Schlagermusik, die aus einer der Wohnungen drang.
    Vor Birtes Tür stand eine Tüte mit leeren Flaschen. Henry drückte die Klingel. Es tat sich nichts. Als er das zweite Mal klingelte, länger diesmal, fiel ihm auf, dass auf der Klingel kein Name stand. Er klopfte, erst zaghaft, dann lauter und schließlich mit den Fäusten, in denen er Blumenstrauß und Plüschelefant hielt. Er schrie, dass endlich die verdammte Tür aufgemacht werden solle, dass er sie ansonsten eintreten werde, dass er die Polizei hole.
    Die Tür öffnete sich tatsächlich einen Spaltbreit, und ein Mann im Bademantel, unrasiert, die Brille schief auf der Nase, streckte den Kopf heraus. Der Mann sah nicht Henry an, sondern fixierte den Plüschelefanten. Henry versuchte, an dem Mann vorbei in die Wohnung zu blicken, aber er konnte nichts erkennen. Drinnen war es dunkel, und ein Geruch von alter Wäsche drang heraus.
    Die Frau, sagte Henry, ob er wisse, wo die Frau hingezogen sei, die vor ihm in dieser Wohnung gelebt habe. Zusammen mit einem Kind, einem kleinen Mädchen, fast fünf Jahre alt.
    Was für eine Frau, er kenne keine Frau mit Kind, sagte der Mann in breitem Berliner Dialekt. Als er die Wohnung das erste Mal besichtigt habe, zusammen mit einem Herrn von der Verwaltung, sei sie schon leer gewesen.
    Seit wann er hier wohne.
    Seit November, sagte der Mann und dann: Ah, Moment, jetzt erinnere er sich an etwas.
    Woran? Woran er sich erinnern würde, fragte Henry und fuchtelte mit dem vom Anklopfen lädierten Blumenstrauß herum.
    Dass im Wohnzimmer hinter der Tür eine Zeichnung gehangen habe. Eine Kinderzeichnung, sehr bunt, mit Stecknadeln an die Tapete geheftet.
    Ach so.
    Ja.
    Ob er ihm die Zeichnung geben könne, fragte Henry.
    Es tue ihm leid, nein, er habe sie damals weggeworfen.
    Was denn draufgewesen sei.
    Er könne sich nicht mehr daran erinnern, sagte der Mann, Krickel-Krakel eben.
    Ohne Blumenstrauß, aber den Plüschelefanten unter den Arm geklemmt, ging Henry am folgenden Montag zu Johannas Kindergarten. Er hatte vier Wodkas trinken müssen, um den Mut aufzubringen. Es war kurz nach eins. Während des Gehens überlegte er: Die Kinder hätten bereits gegessen und hielten Mittagsruhe. Bis die ersten Eltern kämen,
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