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Kopf Unter Wasser

Kopf Unter Wasser

Titel: Kopf Unter Wasser
Autoren: André Kubiczek
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London. Das Haus, in dem Bettina lebte, war ein normales Reihenhaus in Kensington. Von hier aus unternahmen sie Ausflüge, Henry bestand darauf, die Sehenswürdigkeiten zu besuchen, die in seinem Stadtführer verzeichnet waren, von Westminster Palace bis zum Victoria & Albert Museum. Sie schlenderten über den Picadilly Circus und kauften Klamotten in Soho, sie fuhren mit dem Boot auf der Themse und mit der tube unter der Stadt hindurch. Abends gingen sie in Restaurants und aßen indisches Curry, polnische Würste mit Kraut, Pekingente in Chinatown oder einfach fish and chips an einer Imbissbude. Auf dem Heimweg kehrten sie gewöhnlich in einen pub nahe ihrer U-Bahn-Station ein, tranken dort noch ein, zwei dunkle Biere, und Henry warf Münzen in die Jukebox, die mit New-Wave-Klassikern bestückt war. Wenn sie gegen Mitternacht nach Hause kamen, setzten sie sich mit einer Flasche eiskaltem Weißwein auf die Terrasse und beendeten den Tag im flackernden Licht einer Gartenfackel.
    Henry fragte sich jeden Morgen, wie lange das noch gut gehen werde, und war erleichtert, als sie sich endlich in Heathrow verabschiedeten, herzlich, ja innig. Nichts war schiefgelaufen bis zu diesem Punkt, es hatte nicht einen bösen Blick gegeben, nicht ein sarkastisches Wort.
    Henry fühlte sich Bettina so verbunden wie noch nie. Dieses Gefühl rettete er eine ganze Woche durch den staubtrockenen Sommer in Berlin. Dann ging es verloren.

6.
    Etwa zwei Monate nach dem Besuch in London lief Henry leicht verkatert über den Vorplatz des Ostbahnhofs.
    Auf dem Bahnsteig erkannte er ein halbes Dutzend Kollegen, einige nickten ihm zu. Überhaupt sah jeder Dritte aus, als wolle er, wie Henry, zur Buchmesse nach Frankfurt. Die Männer waren in knittriges Leinen gekleidet und trugen beigefarbene Trenchcoats über dem Arm, in deren Seitentaschen Tageszeitungen steckten, die als linksliberal galten. Die Frauen trugen Rock und Blazer.
    Henry kaufte sich Kaffee und belegte Brötchen und gesellte sich, bis der Zug einfuhr, zu den anderen Rauchern an den Aschenbecher.
    Er hatte ein druckfrisches Exemplar seines Buches dabei, und er hätte zufrieden und glücklich darüber sein sollen, so wie er es gewesen war, als der Postbote ihm das Paket mit den Belegexemplaren übergab. Doch in den letzten Tagen war die Freude der Furcht gewichen: Er hatte sich angreifbar gemacht, er war aus der Deckung gekommen und stand jetzt im Freien herum, bereit, von den Kollegen abgeschossen zu werden.
    Das Hotel lag in Bahnhofsnähe, ein schmales Haus mit Teppichboden im Foyer. Die Empfangsdame sah aus wie eine spanische Schlagersängerin aus den Siebzigerjahren, die Henry als Kind im Westfernsehen bewundert hatte. Ihr Kleid war mit großen Blüten bedruckt, und sie wies ihm ein Zimmer im zweiten Stock zu, das nach kaltem Rauch roch. Auf der hellgelben Überdecke des Bettes konnte man den Rand eines großen, nicht ausgewaschenen Fleckes erkennen. Henry stellte seinen Koffer ab und öffnete das Fenster. Der Hinterhof war vom Lärmen der Spatzen erfüllt, und anders als in Berlin schien die Sonne, ein später Altweibersommertag.
    Henry sah kurz in die Minibar, dann steckte er sein Buch ein, nahm den Mantel über die Schulter und lief die zwei Kilometer zum Messegelände.
    Am Stand des Verlages herrschte die Stimmung eines Schulausfluges, fröhliche Ausgelassenheit, ein kleiner Ausnahmezustand. Man schien froh, den Büros entkommen zu sein, das Gedränge am Stand war enorm.
    Die PR-Frau, die ihm zugeteilt war, begrüßte Henry überschwänglich, fragte, ob er Kaffee wolle, jemand anderes drückte ihm ein Glas Prosecco in die Hand. Er wurde den Mitarbeitern vorgestellt, die meisten waren Frauen, nur die Programmchefs und die Betriebswirtschaftler, gekleidet wie Schalterbeamte der Sparkasse, waren Männer. Henry trank vom Prosecco. Das Getränk war warm und ohne Kohlensäure, aber es tat gut, etwas in der Hand zu halten. Und während er wartete, dass irgendetwas passierte, wurde das Gedränge noch größer. Die PR-Frau redete auf ihn ein, erklärte ihm seine Termine für die nächsten Tage, erwähnte, dass sein Buch schon drei positive Rezensionen erhalten habe, und mitten im Reden bekam sie von hinten einen Stoß versetzt, der sie gegen Henry drückte. Für eine Sekunde spürte er ihre Brust an seiner. Sie unterbrach ihre Rede und versuchte, einen Schritt nach hinten zu
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