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Kommissar Morry - Der Henker kam zu spaet

Kommissar Morry - Der Henker kam zu spaet

Titel: Kommissar Morry - Der Henker kam zu spaet
Autoren: Hans E. Koedelpeter
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Schlafsaal hinter mir. Ich werde nie mehr zurückkehren. Lieber würde ich sterben . . .
    Sie spürte ihr Blut heiß durch die Adern strömen. Hart pochte der Puls an ihre Schläfen. Nervös zählte sie die verstreichenden Minuten. Links und rechts verkündeten ruhige Atemzüge, daß ihre Leidensgenossinnen eingeschlafen waren.
    Zehn Minuten vor elf Uhr warf Dora Gibbon geräuschlos die Decken zurück. Sie stand leise auf, schlich zu ihrem Spind und öffnete behutsam die Tür. Mit hastigen Griffen nahm sie das Kostüm heraus, das man ihr für die Kirchenbesuche belassen hatte. Einen Mantel besaß sie nicht. Es mußte auch so gehen. Jetzt muß mir das Glück zur Seite stehen, ging es ihr durch den Kopf. Wenigstens für zehn Minuten muß es mir treu bleiben. Dann kann ich mir allein helfen. Sie zog sich hastig an, sie nahm die Handtasche aus dem Schrank und knöpfte das Kostüm zu. Von der
    Anstaltsuhr hallten elf dünne Schläge herüber. Es war so weit. Wie ein körperloser Schatten huschte Dora Gibbon aus dem stickigen Saal. An der Treppe blieb sie lauschend stehen. Wenn sie der Nachtaufseherin in die Hände lief, war alles verloren. Sie mußte raffiniert zu Werke gehen wie ein Dieb in der Nacht. Zwei, drei Minuten lang wartete sie regungslos neben dem Treppengeländer. Sie hörte keinen Laut. Nirgends ein Schritt. Nirgends ein Hüsteln oder eine menschliche Stimme. Da endlich löste sich Dora Gibbon aus ihrer Erstarrung. Mit langen, lautlosen Sätzen hastete sie die Stufen hinunter. Im Erdgeschoß riß sie die Flügel eines Fensters auf. Schon in der nächsten Sekunde schwang sie sich geschmeidig hinaus in die Nacht.
    Tief sanken ihre Schuhe in dem aufgeweichten Boden ein. Über ihr rauschten die Tannen im Nachtwind. Der Januarhimmel war trüb und wolkenverhangen und ohne Licht. Ohne sich auch nur eine Sekunde Pause zu gönnen, jagte Dora Gibbon auf die Anstaltsmauer zu. Neben der Seitenpforte verbarg sie sich im Gebüsch.
    „Hallo!“ raunte sie leise. „Bist du da, Miriam?“
    Sie bekam keine Antwort. Der Nachtwind sang eine melancholische Melodie. Die Seitenpforte knarrte unaufhörlich. Aus der nahen Heide klangen die seltsamsten Geräusche. Sie machten Dora Gibbon nervös. Ihre Ungeduld wuchs von Sekunde zu Sekunde. Wo sie nur bleibt, dachte sie aufgeregt. Sie wird doch nicht in letzter Minute die Nerven verloren haben. Wenn sie unseren Plan verrät, habe ich keine Chance mehr. Sie richtete sich lauernd aus ihrer gebeugten Stellung auf. Ein leichter Schritt erklang ganz in ihrer Nähe. Aus dem Dunkel schälte sich eine schlanke Gestalt. Zögernd kam der unruhige Schatten näher.
    „Miriam?“
    Ja, sie war es. Ihr Gesicht war blaß und durchsichtig. In den großen Augen flackerte unverhüllte Angst.
    „Wurdest du belauscht?“ fragte Dora Gibbon hastig.
    „Nein. Mich hat niemand gesehen.“
    „All right! Dann haben wir so gut wie gewonnen.“
    Mit gegenseitiger Unterstützung kletterten sie über die Mauer und landeten wohlbehalten auf dem Zufahrtsweg. Die Heide von Trontham tat sich vor ihnen auf.
    Drüben, in einiger Entfernung, zog sich die Landstraße nach London hin. Sie lag völlig einsam.
    „Um diese Stunde wird uns kaum ein Auto begegnen“, murmelte Miriam Davis gedämpft. „Ich habe nur wenig Hoffnung, daß uns jemand mitnimmt. Am liebsten würde ich das Vorhaben aufgeben.“
    „Was redest du denn da?“ zischte Dora Gibbon erbost. „Nimm dich doch zusammen. Denk an die Nächte die du im großen Schlafsaal verbringen mußtest.“
    Sie entfernten sich rasch von der Anstaltsmauer und kämpften sich durch niedriges Buschwerk und dorniges Gestrüpp. Mit zerrissenen Strümpfen und lehmigen Schuhen erreichten sie endlich die Landstraße. Völlig dunkel schlängelte sie sich durch die einsame Heide. Nirgends eine Ortschaft, nirgends ein Licht.
    „Es sind vierzig Meilen nach London“, sagte Miriam Davis niedergeschlagen. „Wie wollen wir diese Strecke jemals schaffen?“
    Auch jetzt wußte Dora Gibbon Rat. Sie war bei weitem die Stärkere. „Ich habe noch etwas Geld. Wenn uns kein Fahrzeug mitnimmt, werden wir zur nächsten Bahnstation laufen. Morgen früh sind wir dann spätestens in London.“
    Das war alles, was sie zu sagen wußte. Von ihren Lippen kam keine Klage, obwohl sie entsetzlich fror. Eiskalt wehte der Januarsturm durch ihr Kostüm. Ihr Körper wurde ganz gefühllos vor Kälte. Am Meilenstein 38 machten sie eine kurze Rast, ähre hochhackigen Schuhe waren nicht geeignet für einen
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