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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder
Autoren: Gernot Gricksch
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Beendigung ihrer Schwangerschaft noch weiter vor als ihre Brust. Ich liebte diesen Bauch. Es war der kuscheligste Ort der Welt.
    Meine Mutter war die Besitzerin eines kleinen Ladens an der Wandsbeker Chaussee, wo sie neben Vanille-, Erdbeer- und Lapsang-Suchong-Tee selbst angefertigten Schmuck und asiatische Textilien verkaufte, vorwiegend Halstücher und lange Röcke. Sie roch immer nach Räucherstäbchen und Patchouli-Öl, und sie liebte und lebte die Esoterik. Meine Mama glaubte an Meditation, an Wiedergeburt und vor allem an Karma. Logisch also, dass sie eine Schutzbehauptung aufstellen musste, warum sie zeitlebens immer nur sporadisch bemannt war. Die männliche Begeisterung für unproportional übergewichtige, selbständige, resolute, meditativ und eso-philosophisch begeisterte Frauen hielt und hält sich in engen Grenzen.
    Der Laden war klein. Sehr klein. Das hinderte meine Mutter aber nicht daran, ganze Wagenladungen Teekisten, bergeweise Stoffe und unzählige Accessoires aller Art hineinzupferchen. Wenn sich jemals mehr als vier Kunden gleichzeitig darin aufgehalten hätten, wäre das ein Verstoß gegen das Brandschutzgesetz gewesen. Doch das kam in den ersten Jahren meines Lebens nie vor. Manchmal kamen überhaupt nur vier Kunden pro Tag. Traumwolke war der erste Laden dieser Art in ganz Hamburg. Meine Mutter war eine Trendsetterin. Einige Jahre später gab es Dutzende solcher Shops, doch bis die Zielgruppe für duftende Tees und gebatikte Stoffe groß genug war, um gut davon leben zu können, musste meine Mutter sich ziemlich durchbeißen. Ich habe erst Jahre später erfahren, wie sie uns trotz der spärlichen Geschäftseinnahmen einen halbwegs ordentlichen Lebensstandard ermöglichen konnte. Es war eine ziemliche Überraschung.

    Als ich vier Jahre alt war, saß ich einmal neben meiner Mutter auf einem kleinen Hocker, während sie an ihrem Arbeitstisch in der Traumwolke eine Kette auffädelte. Meine Mutter hatte mir streng verboten, auch nur ein einziges der Kettenkügelchen in die Hand zu nehmen. Es war ein einleuchtendes Verbot: Sie hatte bereits zweimal den Krankenwagen rufen müssen, da ich mir nur zu gerne kleine Holzkugeln in die Nase stopfte, die dann prompt immer tiefer in meinem Schädel verschwanden. Ein anderes Mal hatte ich eine daumenkuppengroße Murmel verschluckt, die mir dramatisch die Luftzufuhr blockierte. Für mich herrschte seitdem strengstes Kügelchenverbot. Meine Mutter wollte vermeiden, dass sie mich noch vor meiner Einschulung an ein Schmuckutensil verlor.
    Da saß ich also, die Hände brav im Schoß gefaltet, und stellte ganz plötzlich die Frage, vor der es meiner Mutter wahrscheinlich schon immer gegraut hatte: »Wo ist eigentlich mein Papa?«
    Meine Mutter hielt inne, legte die Kette, die sie gerade bearbeitete, auf den Tisch, seufzte und sagte: »Der lebt ganz woanders, Simone.«
    »Aber wieso?«, fragte ich.
    »Weil er anders ist als wir.«
    »Wie anders?«, hakte ich nach.
    »Er ist ein Fisch«, sagte meine Mutter seufzend.
    Ich riss staunend die Augen auf. Das war eine Information, die ein vierjähriges Kind ziemlich aus der Bahn werfen kann: Mein Vater war ein Fisch? Hätte ich dann als Mischlingskind nicht eine Nixe werden müssen – ein kleines Mädchen mit einer schuppigen Schwanzflosse statt zwei pummeligen Beinen?
    »Ein Fisch?«, fragte ich sicherheitshalber noch einmal nach. Hätte ja sein können, dass ich sie falsch verstanden hatte. Erwachsene pflegen sich für Kinder bekanntlich oft unklar auszudrücken.
    »Genau«, bestätigte meine Mutter, »er ist Fisch. Und ich bin Zwilling. Das geht überhaupt nicht zusammen.«
    Das wurde ja immer verrückter! Mein Vater lebte im Meer und meine Mutter hatte eine Zwillingsschwester oder einen Zwillingsbruder? Wieso erfuhr ich das erst jetzt? Weil diese schockierende Informationsflut mich überforderte und mir zehn Fragen gleichzeitig durch den Kopf schossen, die ich nicht alle gleichzeitig stellen konnte, fing ich erst einmal an zu heulen.
    »Beruhig dich doch, Saraswati«, sagte meine Mutter besänftigend. So nannte sie mich oft: Saraswati. Die indische Göttin der Weisheit. Es wäre mein regulärer Name geworden, hätte der Angestellte im Standesamt sich nicht standhaft geweigert, einem frisch geborenen Baby einen Namen zu geben, der klang wie eine Mischung aus Motorradmarke und ukrainischem Politiker.
    Doch ich wollte mich nicht beruhigen. Ich hatte das Gefühl, dass meine komplette Welt gerade aus den Angeln gehoben
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