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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder
Autoren: Gernot Gricksch
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Rücksitz, was erst funktionierte, nachdem der inzwischen schweißtriefende Taxichauffeur den Beifahrersitz bis zum Anschlag nach vorne gezogen hatte. Dann hielt einer der drei Samariter plötzlich inne, zeigte auf einen Fleck auf dem Sitzpolster und fragte erschrocken: »Ist das Blut?« Im gleichen Moment stieß meine Mutter einen Schrei aus, der die Scheiben des Wagens zum Vibrieren brachte. »Es kommt!«, kreischte sie. »Mein Kind kommt!«
    *
    »Mark«, sagte meine Mutter zärtlich und streichelte sanft meinen Hinterkopf. Ich lag eingewickelt in eine Decke auf ihrem Bauch, frisch gewaschen und erstaunlich unrunzelig, und suchte mit dem Mund ihre Brustwarze. »Mein kleiner Mark!«
    Ich wurde zum ersten Mal mit Muttermilch versorgt. Dafür hatte mich die Schwester mitsamt der Plastikwiege, in der ich lag, ins Zimmer meiner Mutter gerollt und mich dann bei ihr angedockt. Drive-in-Stillen sozusagen. Hatte ich genug getrunken, würde sie mich zurückrollen in den Raum, in dem alle Säuglinge nebeneinander in ihren Plastikschalen lagen, wie kleine Rollbraten in der Vitrine eines Fleischereifachgeschäfts. Anfang der 70er Jahre gaben sich Entbindungskliniken aus unerklärlichen Gründen die denkbar größte Mühe, einen allzu engen Kontakt zwischen Babys und ihren Eltern zu verhindern. Trotzdem gab es sie, diese intimen, familiären Glücksmomente.
    Wahrscheinlich sahen wir drei in dem schmucken Zweibettzimmer der Wöchnerinnenstation aus wie die kitschige Illustration in einer Broschüre über das Glück der deutschen Kleinfamilie: Mein Vater saß in seinem dunkelgrauen Anzug auf einem Stuhl neben dem Bett, hielt die Hand meiner Mutter und strahlte über das ganze Gesicht. Meine Eltern waren vielleicht keine sehr spannenden Menschen, allzu konservativ und von einer wenig einnehmenden deutschen Gründlichkeit und Rationalität geprägt – aber sie liebten einander und mich mit der gleichen Hingabe, mit der sie ansonsten planten und organisierten. Ich war ein Wunschkind: Aufrichtig gewollt, und ganz bewusst an einem von meinem Vater ausgerechneten, besonders empfängnisbereiten Tag gezeugt. Im Moment dieser schnappschussartigen Idylle schoben zwei Pfleger eilig eine Trage durch den Flur an der offenen Tür unseres Zimmers vorbei. Darauf lag eine Frau in einem grellbunten Kleid, die aus ganzem Herzen lachte.
    »Das ist doch die Verrückte aus dem Stadtpark!«, staunte mein Vater. »So ein Kleid gibt’s garantiert nicht zweimal.«
    »Was ist das denn für eine?«, fragte meine Mutter eine Krankenschwester, die gerade zu uns ins Zimmer kam.
    »Die hat ihr Kind eben im Taxi bekommen«, lächelte die Schwester. »Ein gesundes Mädchen. Aber die Mutter ist total fertig. Der Arzt hat ihr Schmerzmittel gespritzt und jetzt lacht sie die ganze Zeit. Zwischendurch singt sie auch. California Dreaming. « Als das gackernde Gelächter der Frau aus der Ferne des Flurs zu uns drang, musste die Schwester lächeln: »Ein ziemlich verrücktes Huhn, diese Frau. Das pure Chaos. Wir müssen sie gerade aus ihrem ersten Zimmer in ein anderes verlegen.«
    Mein Vater warf einen Blick auf das zweite, leerstehende Bett neben dem, in dem meine Mutter mit mir lag, griff schnell in die Brusttasche seines Sakkos und holte einen Zwanzig-Mark-Schein heraus, den er der Schwester reichte. »Bitte sorgen Sie dafür, dass sie nicht in das Zimmer meiner Frau gelegt wird«, bat er sie. »Meine Frau braucht ihre Ruhe.«
    Die Krankenschwester lächelte, steckte den Schein in die Tasche ihres Kittels und sagte: »Das wird sich wohl machen lassen. Danke schön.« Bevor sie die Tür hinter sich schloss, dröhnte noch ein »I’d be safe and warm / if I was in L.A.« durch den Gang.

Kapitel 2
    1974
    M eine Mutter nannte mich Simone. Französisch ausgesprochen, bitte. Nach Simone de Beauvoir, der Lebensgefährtin Jean-Paul Sartres und Mitbegründerin des modernen Feminismus. Mama sah sich als Feministin und gab es gern als emanzipiertes Statement aus, dass sie mich allein erzog. Tatsächlich aber hat sie einfach nicht den Richtigen gefunden. Oder er wollte nicht von ihr gefunden werden. Meine Mutter stand nicht gerade oben auf der Beuteschema-Liste des deutschen Durchschnittsmannes. Sie hatte locker zwanzig Kilo mehr auf den Rippen, als Frauen nach herrschender männlicher Meinung mit sich herumschleppen sollten. Heimtückischerweise verteilte sich dieses Extragewicht so ziemlich überall auf ihren Körper, nur nicht auf ihren Busen. Ihr Bauch stand auch nach
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