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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder
Autoren: Gernot Gricksch
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worden war. Ich war ein Halbfisch, ich hatte Verwandte, die mir unerklärlicherweise vorenthalten wurden, und außerdem war ich vier Jahre alt. In diesem Alter schreit und heult man ohnehin gerne mit unangebrachter Vehemenz. Und da ich noch nie eine Anhängerin subtiler Verhaltensweisen war, warf ich mich zudem auch noch auf den Boden, wo ich trampelte und kreischte, was meine Gelenke und mein Lungenvolumen hergaben. Meine Mutter versuchte mich zu beruhigen und mir alles zu erklären, doch ich schlug so wild um mich, dass Mama rückwärts gegen ihren Arbeitstisch stolperte, der darob ins Wackeln geriet und eine Flut von Hunderten kleinen bunten Perlen über den Fußboden ergoss.
    *
    Meine Mutter hatte beschlossen, als Hippie zum Fasching zu gehen. »Peter, kannst du mir in der Stadt so ein billiges indisches Kleid besorgen?«, bat sie meinen Vater. »Und vielleicht noch so eine alberne bunte Kette, wenn du so etwas findest.«
    »Da gibt’s doch diesen Laden an der Wandsbeker Chaussee«, fiel meinem Vater ein. » Schlummerland oder so ähnlich. Die haben bestimmt so etwas.«
    »Nimm irgendetwas billiges«, sagte meine Mutter. »Ist ja nur für diese eine Feier.«
    »Du als Hippie!«, schmunzelte mein Vater und gab seiner Frau, die in ihrem grauen Rock und der dezent beigen Bluse tatsächlich nicht so aussah, als würde der Geist von Woodstock sie je beseelen können, einen Kuss. »Köstlich!«
    Mein Vater notierte sich den Auftrag in seinem Terminkalender. Er überlegte kurz und sagte dann: »Am besten gehe ich in Wandsbek dann gleich noch Schuhe mit Mark kaufen.«
    »Gute Idee«, lobte meine Mutter.
    Mein Vater war ein großer Freund konventioneller Rollenverteilung. Er hat in seinem Leben vermutlich nicht ein einziges Mal den Abwasch gemacht, dafür aber gefühlte zweihundert Regale angedübelt und sich um alle Rechnungen und Steuerdinge gekümmert. Den Männerkram eben. Eine große Ausnahme machte er jedoch: Einkäufe aller Art, inklusive Kinderklamotten, fielen entgegen aller Klischees in seinen Aufgabenbereich. Meine Mutter, die mir sicher auch gerne mal einen Pulli oder ein Paar Schuhe ausgesucht hätte, musste zugeben, dass mein Vater ein wahrer Meister darin war, die besten Angebote auszuspähen. Alle Einkäufe, die er tätigte, waren aber nicht nur günstig, sondern noch dazu absolut zielgenau. Niemals, wirklich niemals, musste er etwas umtauschen.
    So setzte er mich zwei Tage später also auf den Beifahrersitz seines Mercedes, wo ich fröhlich auf und ab hüpfte. Kindersitze und die Gurtpflicht waren noch nicht erfunden. Während ich als potenzieller Todeskandidat neben ihm fuhr und im Radio, dessen einzige Auswahl zwischen NDR 1, NDR 2 und NDR 3 bestand, Theo, wir fahren nach Lodz von Vicki Leandros dudelte, machte mein Vater ein paar Rechenübungen mit mir. Ich liebte es, wenn er das tat! Mein Vater hatte früh erkannt, dass meine Leidenschaft für Zahlen und das Aufspüren logischer Zusammenhänge ebenso ausgeprägt war wie bei ihm. Und er genoss es, diese Neigung bei mir zu fördern. Mein Vater machte mit mir Rechenaufgaben, so wie andere Väter mit ihren Kindern zum Fußballplatz gingen.
    »Wenn ein Mann einen hundert Meter hohen Berg besteigen will und pro Stunde zwanzig Meter Höhenunterschied zurücklegt, wie lange braucht er dann, um den Gipfel zu erreichen?«
    Ich kniff die Lippen zusammen und begann zu rechnen. Vor meinem inneren Auge tauchte kein Mann auf, der in Lederstiefeln und Lodenmantel einen malerischen Berg bestieg – ich sah nackte Zahlen und eine lange, konstante Linie. Ich abstrahierte. Das konnte ich schon sehr früh sehr gut.
    »Fünf Stunden«, sagte ich nach einer Weile konzentrierten Rechnens.
    »Sehr gut«, freute sich mein Vater. »Willst du noch eine Aufgabe lösen?«
    »Au ja!« Ich strahlte, als hätte ich ein Bonbon zu erwarten.
     
    Mein Vater fand ganz in der Nähe des Ladens, der nicht Schlummerland, sondern Traumwolke hieß, einen Parkplatz. Er stieg aus, ging um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür und ließ dann mich aussteigen. Ich nahm seine Hand, als wir gemeinsam zum Laden gingen.
    Die Traumwolke hatte ein kleines Schaufenster, das so randvoll mit Sachen gestopft war, dass ich zuerst gar nichts erkannte. Da glitzerten Ketten und Ohrringe auf einem mit schwarzem Samt bespannten Brett, Tücher baumelten an einer Leine, in Schälchen lagen braune Teeblatt-Krümel. Kleine Duftöl-Fläschchen, kaum größer als ein Fingernagel, waren in einem Setzkasten
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