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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder
Autoren: Gernot Gricksch
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meinem Kopf sortieren will. In ein paar Wochen werde ich vierzig, und ich habe das Gefühl, ich muss herausfinden, ob es in meiner Existenz nicht doch eine Art von System gibt, das sich mir einfach noch nicht erschlossen hat. Alles fing doch sehr sortiert und geradlinig an. Ich war viele Jahre lang auf einem absolut klaren Weg, ein regelrechter Erfolgsraser. Ich lebte auf der Überholspur, mit Lichthupe und ohne Tempolimit. Wann genau habe ich dann aber die Abzweigung genommen, die mich auf den Schlängelpfad führte, auf dem ich jetzt durchs Leben stolpere? Und vor allem: Warum bin ich abgebogen? Wieso sitze ich mit 39,27 Jahren nicht in einer schicken Penthousewohnung, sondern in einem kleinen Eineinhalb-Zimmer-Apartment, fernab aller Erwartungen und Pläne?
    Nicht, dass ich unglücklich wäre. Es ist eigentlich ganz spannend, nie zu wissen, was nach der nächsten Wegbiegung auf mich wartet. Und ich genieße die Abwesenheit jeglichen Drucks. Ich trödle. Das hätte ich früher nie für möglich gehalten. Aber ich kann trotzdem nicht aus meiner analytischen Haut: Ich möchte wissen, wie ich dorthin gekommen bin, wo ich jetzt bin.
    Ich glaube nicht an Schicksal und Vorsehung. Jedenfalls nicht im klassischen Sinne. Ich glaube an Zufälle und ich weiß, dass eine Berechnung umso unpräziser ausfällt, je mehr Variablen darin auftauchen. Eine Formel ist ab einer gewissen Menge an X-Stellen einfach nicht mehr lösbar. Ich schätze, das Leben ist so eine Formel. Variablen bis zum Abwinken. Man rechnet sich buchstäblich zu Tode dabei.
    Und doch versuche ich jetzt, den Code meiner ersten fast vierzig Lebensjahre zu knacken. Es ist, als ob jemand oder etwas mich dazu zwingt. Als ob es irgendein großes Ereignis gäbe, auf das ich unausweichlich zusteuere und auf das ich mich seit meiner Geburt vorbereite. Das klingt bescheuert, ich weiß. Wie diese merkwürdigen Moderatoren bei Astro TV, die Tarotkarten vor sich auf den Tisch legen, daraus dann in grammatikalisch fragwürdigem Deutsch irgendeine lächerliche Kausalkette ableiten und den armen Anrufern, die einsam und traurig sind und auf ein wenig Hilfe hoffen, 1,28 Euro pro Minute aus dem gebeugten Kreuz leiern. Doch nur weil eine Horde von Scharlatanen das Feld der Lebenshilfe beackert, muss es ja nicht heißen, dass es nicht vielleicht doch eine bislang unbekannte Methode gibt, den Geheimnissen unseres Daseins auf die Spur zu kommen. Ich muss es einfach versuchen.
    »Leben ist das, was zwischen den Terminen passiert«, hat eine meiner Sekretärinnen mal zu mir gesagt. Sie war nicht sehr lange in der Firma. Aber der Satz klebt mir immer noch im Kopf. Ich habe inzwischen nicht mehr viele Termine – aber wo bleibt das Leben?

Kapitel 3
    1975
    M eine Mutter machte viele Ausflüge mit mir. Fast jeden Sonntag, wenn die Traumwolke geschlossen war, schnappte sie mich und fuhr irgendwo mit mir hin. Bevorzugt an Orte, die nicht überdacht waren. Sie ließ mich auf dem Spielplatz in den Wallanlagen der Innenstadt toben und über die Schützenfeste in den kleinen Dörfern vor den Toren Hamburgs, zeigte mir die Altstadt von Lübeck und die Strandpromenade von Travemünde. Meine Mutter hatte Hummeln im Hintern und schaute sich liebend gern alles an, was sie noch nicht kannte. Wirklich alles! Manchmal stand sie mit mir an einer Straße, irgendwo im Nirgendwo, wo bloß ein paar Häuser, ein Gasthof, ein Kuhstall und ein skeptisch dreinblickender Mann mit einer Schubkarre herumstanden, und sagte so etwas wie: »So, Saraswati. Jetzt haben wir auch Ramelsloh mal gesehen.« Oder Emsen. Oder Halstenbek. Und ich fand es schön. Ich war schließlich demselben Gen-Pool entsprungen und gierte ebenfalls nach neuen Eindrücken. Jeder neue Ort war eine Entdeckung wert. Sogar Ramelsloh.

    Im Mai 1975 lag ich auf dem Rücksitz unseres alten VW-Busses, spielte mit einer mongolischen Holzpuppe, die meine Mama mir auf einem Flohmarkt gekauft hatte, und summte das Lied mit, das im Radio lief: Fox on the Run von The Sweet. Wir waren auf dem Weg in den Wildpark Schwarze Berge, einem Naturschutzgebiet in der Nähe von Hamburg-Harburg. Der Wildpark versprach, halb Zoo und halb Wanderwald zu sein. Meine Mutter hatte zwei Freikarten geschenkt bekommen und wir beide freuten uns sehr. Wir wussten ja nicht, dass dieser Sonntagsausflug einen unerwartet chaotischen Verlauf nehmen und eine Charaktereigenschaft an mir offenbaren würde, die mir in meinem Leben noch eine Menge Ärger einbringen sollte: meinen
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