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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder
Autoren: Gernot Gricksch
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Beschützerinstinkt.
    Am Eingang des Wildparks kauften wir drei Tüten mit Tierfutter. Ich liebte es, Tiere zu füttern. Es dauerte keine fünfzehn Minuten, bis alle drei Tüten leer waren, obwohl wir noch keine zweihundert Meter Wanderweg zurückgelegt hatten. Der Grund dafür war die heimliche Attraktion des Wildparks Schwarze Berge: die Hängebauchschweine! Sowie man den Park betrat, waren sie da, Dutzende von klobigen, dreckigen, grunzenden Säugetieren, deren pralle Wampen fast über den Boden schleiften und die unverzüglich auf jeden Besucher zuwatschelten, um sie um den Inhalt der Futtertüten zu bringen. Ich war hingerissen! Sie waren potthässlich, diese Tiere, und trotzdem so unwiderstehlich niedlich, dass ich gar nicht von ihnen lassen konnte. Ich fütterte sie, streichelte und knuddelte sie. »Süüüüß!«, rief ich immer wieder. »Die sind so süüüüß! «
    Meine Mutter stand etwas abseits und lachte. »Aber küssen solltest du sie trotzdem nicht, Schätzchen!«, bat sie mich. »Die sind wirklich schmutzig.«
    »Ist gut!«, rief ich und wischte mir ein paar dreckverkrustete Borsten von den Lippen.
    Einige der Hängebauchschweine hatten Junge bekommen. Die waren noch richtig winzig, kaum größer als Meerschweinchen. Leider konnte man sie nicht anfassen; die Schweinemütter wachten über sie und stupsten jeden, der sich den Kleinen nähern wollte, resolut zurück. Ich beobachtete die Frischlinge aus sicherer Entfernung und war absolut entzückt. Sie waren hässlich und goldig zugleich. Doch dann sah ich das eine Wildschweinjunge, das anders aussah als die anderen. Das ganz besondere Schweinchen, das ich bis heute nicht vergessen habe. Es war kleiner. Es war auch dünner und hatte an einigen Stellen hässliche Flecken im Fell, als wäre es dort gebissen oder gekratzt worden. Dieser Frischling stolperte nicht im Kindergarten der anderen Jungtiere herum, sondern stand, von allen ignoriert, etwas abseits an einem Baumstamm und schaute sich die Menschen und ihre Artgenossen mit einem traurig-entrückten Blick an. Und da geschah es: Ich verliebte mich! Zum ersten Mal in meinem Leben. In einen struppigen, hilflosen und unberechenbaren Außenseiter. Es würde nicht das letzte Mal sein.
    Ich sah ein herzzerreißend lebensuntüchtiges Schweinchen und mein Herz ging auf.
    Eines der Großschweine rempelte mich an und schreckte mich aus meinem verzückten Moment auf. Das Schwein versuchte, seinen Rüssel in meine bunte Jute-Umhängetasche zu stecken, um nachzuschauen, ob dort nicht doch noch ein paar Futterbrocken verborgen wären. Doch die Tasche war leer.
    Meine Mutter rief: »Saraswati, komm jetzt! Da hinten gibt’s auch noch Rehe!«
    Ich sah noch einmal zu meinem Außenseiter-Frischling hinüber, und ich schwöre: Er schaute mir direkt in die Augen! Als ob er mich um Hilfe anflehte.
    Ich bin ein impulsiver Mensch. Man kann mich auch unvernünftig nennen, das beleidigt mich nicht. Vernunft ist die Bremse des Glücks, finde ich. Aber ich weiß trotzdem, dass man hin und wieder doch einen Plan braucht, dass man nicht immer spontan aus der Hüfte schießen darf. Selbst damals, mit fünf Jahren, wusste ich das schon. Ich ging also zu meiner Mutter, nahm ihre Hand und sagte, als könne mich kein Wässerchen trüben: »Oh, toll! Rehe sind soooooo schön!«
    Zwei Stunden lang schlenderten wir durch den Wildpark, sahen uns allerlei Tiere an und aßen jeder ein Eis. Ich rutschte durch eine sandige Stahlröhre, schaukelte wild und balancierte auf einem umgekippten Baumstamm, so wie meine Mutter es von mir erwartete. Doch die ganze Zeit dachte ich dabei nur an das kleine Hängebauchschweinchen. Ich hatte ihm sogar schon einen Namen gegeben: Struppi.
    Als wir die komplette Runde gedreht hatten und wieder am Ausgangspunkt angekommen waren, sagte ich zu meiner Mutter: »Ich muss noch mal auf die Toilette«, und flitzte sofort los, damit sie gar nicht erst auf die Idee kommen konnte, mich zu begleiten. Ich rannte allerdings an dem Toilettenhäuschen vorbei, hastete im Schutz einer Baumreihe hinter dem Rücken meiner Mutter einen Weg hinunter und befand mich keine Minute später im Hängebauchschwein-Areal wieder.
    Ich sah Struppi sofort: Er stand an einem anderen Baum als vorhin, hatte aber immer noch denselben herzzerreißenden Blick. Die Zeit war knapp, also lief ich zu ihm hin, konnte ihn mir, da sich nach wie vor kein ausgewachsenes Schwein in seiner Nähe aufhielt, problemlos schnappen und stopfte ihn in meine
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