Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder
Autoren: Gernot Gricksch
Vom Netzwerk:
die Ferienwohnung meiner Eltern nach Sylt.«
    »Ist doch auch toll«, sagte der Pfleger.
    Die Krankenschwester schaute ihn an; er grinste verlegen; sie schaute schnell zu Boden. Und Simone, von Wehen malträtiert und kurz davor, ein Leben zu schenken, schrie die beiden ohne Vorwarnung an.
    »Ihr seid verknallt ineinander!«, brüllte sie los. »Und was tut ihr? Nichts! Sagt es euch endlich und küsst euch und macht was daraus! Himmelherrgott, scheiße noch mal! So viel Zeitverschwendung überall!«
    Die Schwester und der Pfleger blickten einander erstaunt an – und dann lächelten sie.
    »Na also«, sagte Simone, »geht doch. Und jetzt – aaaaaahhhhhhh! «
    » Noch nicht pressen«, sagte die Hebamme mahnend. Sie massierte ihre Hand. »Zwei, drei Wehen müssen Sie noch abwarten.«
    »Ich habe genug gewartet, du blöde Kuh!«, schrie Simone. Als die Hebamme, die so etwas gewöhnt war, lachte, keuchte sie kleinlaut: »’tschuldigung.«
    Und ganz plötzlich hatte sie eine Eingebung.
    Das ist die falsche Hand, die ich hier halte!, dachte sie.

    Mark hätte gehen können. Die Frau an der Krankenhausrezeption hatte ihm angeboten, ihm Geld für seine Fuhre zu geben, doch er hatte ja nicht einmal das Taxameter eingeschaltet.
    Die Frau wurde versorgt, er hatte geholfen.
    Er konnte gehen.
    Trotzdem setzte er sich auf eine der Bänke im Eingangsbereich. Er musste einfach noch bleiben. Etwas hielt ihn. Er wusste nicht was es war, aber manchmal war etwas eben genug.
    An der Wand des Wartebereichs hingen zwei Flachbildschirme, auf denen stumm das Fernsehprogramm von Kabel Eins flimmerte. Es lief irgendeine Doku-Soap über Leute, die ihr Haus renovierten oder umzogen oder so etwas. Mark nahm sich den Stern vom Zeitungsstapel auf dem Beistelltischchen und blätterte geistesabwesend darin herum, ohne wirklich zu lesen. Er sah nicht, wie auf dem Monitor sein ehemaliger Resthof in Linstahn ein neues Dach bekam. Er bemerkte auch nicht die Rubrik Was macht eigentlich auf der letzten Seite des Stern s, die sich diesmal Matthias Rust widmete.
    Mark hing seinen Gedanken nach. Nur dass es eigentlich keine richtigen Gedanken waren. Er dachte plötzlich an seine alte nierenkranke Katze und fragte sich, was wohl aus ihr geworden war, nachdem sie damals weggelaufen war. Er erinnerte sich an Dinge, an die er seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht hatte. An den Tag, als er mit seinem Vater in dem Hippie-Laden ein Kleid für Mamas Faschingsparty kaufen wollte. Er dachte an Costa Rica und die arme Frau, die bei der Demonstration hoffentlich nicht allzu sehr verletzt worden war. Er fragte sich, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er nicht auf die Mösenkauer-Schule gekommen wäre.
    Vielleicht, dachte Mark, liegt diese nostalgische Nachdenklichkeit daran, dass ich gerade Anteil daran gehabt habe, ein neues Leben in die Welt zu bringen. Ein nur kleiner Anteil, zugegeben. Er war bloß der Chauffeur gewesen. Aber er war im richtigen Moment am richtigen Ort gewesen, und jetzt würde es bald einen Menschen mehr auf dieser Welt geben.
    Einen Menschen, der wie wir alle dem Zufall ausgeliefert war. Ein Mensch, der verpasste Gelegenheiten und ergriffene Chancen haben würde und sich daraus ein Leben formte. Vorausgesetzt, wir formen unser Leben tatsächlich selbst. Oder wird es womöglich für uns geformt?
    Mark musste über sich selbst schmunzeln: Nur weil er eine Frau in eine Entbindungsklinik gefahren hatte, begann er jetzt, sich plötzlich große philosophische Gedanken zu machen und existenzielle Fragen zu stellen.
    Wie ein Mensch sein Schicksal meistert, ist wichtiger, als was sein Schicksal ist, fiel Mark ein. Es war ein Zitat von dem Philosophen Friedrich Wilhelm Christian Karl Ferdinand Freiherr von Humboldt. Mark war einigermaßen erleichtert, dass er sich zwar an all dessen Vornamen erinnerte, aber immerhin nicht mehr wusste, wann genau Humboldt gelebt hat. Das wäre zu gruselig gewesen. Trotzdem: Er war schon ein verdammter Klugscheißer, da hatte die Frau in seinem Auto wirklich recht gehabt. Welcher normale Mensch sitzt in einem Krankenhaus und denkt über Humboldt-Zitate nach?
    »Sie will Sie sehen«, sagte plötzlich eine Stimme. Mark schaute auf und sah den Krankenpfleger.
    »Wer?«, fragte er.
    »Die Frau«, sagte der Pfleger. »Die Schwangere. Sie ist in 3B. Und sie will Sie sehen.«
    Mark sprang auf. »Ist sie okay? Geht’s ihr gut?«
    Der Pfleger lachte, während er mit Mark über den Gang eilte. »Die ist sogar sehr okay«, sagte er und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher