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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder
Autoren: Gernot Gricksch
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Simone ein wenig giftig. »Ich habe ihr dringend abgeraten, dahin zu fliegen. Das ist nämlich ein Scheißland. Voll die Militärdiktatur! Aber natürlich hat sie nicht auf mich gehört.«
    »Tja, also …«, sagte der Mann, irritiert über die plötzliche Gereiztheit in ihrer Stimme. »Wenn Sie mich dann nicht mehr brauchen …?«
    »Ich packe nur noch die Kisten zusammen«, nickte Simone. »Ich kann die ja hier stehenlassen, hat dein Chef gesagt. Und morgen lasse ich sie abholen.«
    »Ja, klar«, sagte der Mann. »Also, dann. Ich schließe ab, wenn Sie fertig sind.«
    »Okey-dokey«, sagte Simone und registrierte den irritierten Blick des höchstens fünfundzwanzigjährigen Planetariumsangestellten. Das passierte ihr immer öfter. Sie sagte Sachen, die für jüngere Menschen offenbar absurd klangen. Sachen wie Okey Dokey oder dufte . Retro-Deutsch. Oma-Talk.
    Der junge Mann verschwand hinter einer Tür und Simone verstaute die letzten Räucherstäbchen in einem Pappkarton. Vier Stunden lang hatte sie hier Sachen verkauft und Flugblätter für ihren Onlineshop verteilt. Die Geschäfte liefen nicht mehr so toll seit dem Bankencrash, ihr Konto dünnte langsam, aber sicher aus, und deshalb musste sie wieder vermehrt an die Front. Veranstaltungen wie die im Planetarium ( Karma und Schicksal – Bestimmen die Sterne unser Leben? Vortrag, Multimediashow und Spiritual-Techno-Sounds in Digital-3-D-Surround) versprachen potenzielle Abnehmer ihrer asiatischen Esoterik-Angebotspalette.
    Die Stunden am Verkaufsstand hatten Simone ziemlich zu schaffen gemacht. Aber sie war nicht bereit, sich ihrer Erschöpfung zu ergeben. Sie wollte sich nicht aufs Sofa zurückziehen. Es waren noch über drei Wochen bis zum Stichtag! Sie hatte noch reichlich Zeit, Dinge zu erledigen.
    Simone schloss den letzten Karton und watschelte zum Planetariumsausgang. Es war jetzt kurz nach elf Uhr am Abend. Es war warm, ein ungewöhnlicher Vorgeschmack auf den Sommer. Und es war dunkel. Doch Simone fürchtete sich nicht bei der Vorstellung, durch den finsteren Stadtpark zu ihrem Wagen zu gehen. Der Parkplatz war gut fünfhundert Meter entfernt, aber wer würde schon einen Walfisch vergewaltigen? Und dass es bei ihr nichts zu rauben gäbe, war offensichtlich. Sie trug bloß ein dünnes, zeltgroßes Batikkleid. Den Autoschlüssel hielt sie in der Hand.
    Simone war gerade zweihundert Meter weit gekommen – das Planetarium war außer Sichtweite, der Parkplatz bei ihrem schwangerschaftsbedingten Schritttempo noch mehrere Minuten entfernt –, als sie plötzlich aufschrie! Ein reißender Schmerz in ihrem Unterleib griff sie ohne jede Vorwarnung an! Ihre Knie knickten ein, und sie plumpste wie ein gefällter Baum zu Boden.
    »Scheiße!«, schrie Simone. »Es kommt!«
    Sie lag auf dem Kiesweg und in ihrem Unterleib brach die Hölle los. Irgendwas riss in ihr, zerrte, schlug zu. Der Schmerz war heftig und komplett anders als jeder Schmerz, den sie kannte. Simone krümmte sich zusammen und besann sich mühsam auf das, was sie im Schwangerschaftskurs gelernt hatte: Atmen, ganz ruhig und gleichmäßig.
    Leichter gesagt als getan!
    Wieso denn schon jetzt?, dachte Simone, während sie stoßweise keuchte. Das ist doch noch viel zu früh!
    Doch dann musste sie lachen! Ihr Timing war schon immer daneben gewesen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas zu der Zeit hinbekommen, in der es angebracht gewesen wäre. Und ihr Kind – eine Tochter, wie sie vom Ultraschall wusste – war offenbar aus demselben zeitlosen Holz geschnitzt. Das Baby war wie sie. Sie würde ebenfalls eine verdammte Zeitanarchistin sein!
    Es war ein bizarrer Anblick, wie Simone da lag, auf dem dunklen Weg des Stadtparks, gekrümmt, monströs und lachend.
    Langsam ließ die Wehe nach. Gott sei Dank.
    Simone schaffte es mit enormem Kraftaufwand, sich zu erheben. Sie beschloss, dass es keinen Sinn machte, sich zu ihrem Auto zu schleppen. Fahren könnte sie in ihrem Zustand sowieso nicht. Sie würde sich stattdessen durch das Gebüsch bis zur nahe gelegenen Hindenburgstraße durchkämpfen und dort ein Auto anhalten. Und während sie die ersten Schritte in diese Richtung machte – möglichst schnell, damit sie dort ankam, bevor die nächste Wehe einsetzte –, wurde ihr plötzlich klar, dass das alles schon einmal passiert war. Dass sich die Geschichte gerade wiederholte. Sie war ihre Mutter! Und ihre Tochter würde werden wie sie! Es war ein großer Kreis, der sich immer zur falschen Zeit
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