Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

Titel: König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
Autoren: Andrea Winkler
Vom Netzwerk:
kostbar sein, um nicht irgendetwas verstehen zu wollen. Dem Singen des Spatzen auf dem Dach werden Sie antworten oder dem Brüllen des Löwen im Zoo, und das Funktionieren der Maschine erkunden, der Sie tagtäglich Ihre Fingerspitzen anvertrauen. Nichts in der Welt hat keinen Sinn, und was partout keinen freigibt, dem werden Sie einen abzulauschen lernen. Gewiss ahnen Sie bereits, dass Denken und Verstehen nicht nur mit Leichtigkeit und Freude verbunden sind. Entsagung und Überstunden erwarten Sie, Albträume, Schweißausbrüche und Verwirrung.« Professor Icks? Professor Icks? Sonderbar. Professor Icks erinnert mich an jemanden, von dem ich gelesen hatte, lange, lange, bevor ich hier aufgenommen wurde, und wenn ich mich da ihm gegenüber so in der Tür stehen sehe, werde sogar ich selbst mir zur Erinnerung an jemanden, den ich einmal anderswo gelesen habe. Ich werde ihm das bei Gelegenheit sagen. Ich werde meine ganze Kraft zusammen nehmen, zu ihm hingehen und sprechen: Herr Professor, Sie erinnern mich an eine Figur, von der ich gelesen hatte, lange bevor ich wissen konnte, dass ich jemals meinen Fuß über die Schwelle dieses Instituts setzen würde, um zu lernen, was es heißt, ein nachdenkender Mensch zu sein. Verstehen Sie, Herr Professor? Und wäre es nicht möglich, dass bereits dieser leichte Hauch von Erinnerung mich zu Ihnen in ein besonderes Verhältnis setzt? Womöglich strömen Sie etwas aus, auf das ich immer schon warte. – So wie der Reisende am Baumstamm auf mich, Lina, die mit solcher Notwendigkeit auf nichts als die Blätter geschaut haben soll, auf dass darin große Löcher wachsen? Die vergessendste Träumerin des letzten Jahrzehnts, eine Schwärmerin wie aus einer andern Zeit? Aber doch nicht, wenn Professor Icks sich räuspert, die Hände aufs Pult legt und, an uns alle gewendet, an uns, die wir hier im Hörsaal sitzen, an Flora, Justin und mich zum Beispiel, sagt, was zu Beginn und zur Einführung nun einmal gesagt werden muss: »Sie sind hier, weil Sie etwas interessiert, was die wenigsten Menschen interessiert. Sie wollen den Dingen auf den Grund gehen, Sie wollen nachdenken, womöglich über das Wesen der Worte. Oder ist hier etwa einer, der das nicht will, der sich doch lieber über das Brüllen des Löwen im Zoo und das Zirpen von Grillen den Kopf zerbrechen will? Bitte, dann hadern Sie nicht länger, niemand wird es Ihnen übel nehmen, wenn Sie augenblicklich aufstehen und den Raum verlassen. Gedankenforscher und professionelle Versteher braucht die Welt nicht, schon gar nicht im Überfluss. Zwar unser Institut, deshalb sind Sie ja hier, braucht die Stadt, braucht das Land, braucht der Mensch, der da draußen jenseits der Bühne, jenseits des Podiums, also im Publikumsraum sitzt, unter andern Menschen, unter seinesgleichen. Kennen Sie die Geschichte vom König, dem der Hofnarr befiehlt, sich einen Knoten in sein Taschentuch zu binden, damit er sich an sein Volk erinnere? Wir werden vielleicht darauf zurück kommen, später. Aber merken Sie sich vorerst eines: Hier entscheiden Sie, ob Sie der König, der Hofnarr oder das Volk sein wollen. Es obliegt Ihrem Engagement, ob Sie da vorne am Podium das Publikum – und was ist das Publikum anderes als das, was einmal die Dichter, besonders die Hofnarren unter den Dichtern, Volk genannt haben – durch den Abend führen, ganz nah an die Gedanken Ihres Nachbarn auf der Bühne, des Menschen, der neben Ihnen sitzt und Ihrer Vermittlung bedarf, weil seine Gedanken und Worte allein es nicht vermögen, sich auszudehnen auf das Häufchen Volk, das der König vergessen hat. Freilich, ich sagte es schon, Sie könnten auch der König sein, es hängt eben alles von Ihnen selbst ab. Vergessen Sie in diesem Zusammenhang allerdings auch die Freunde nicht, ja, ja, die Freunde !«
    Die Lampe scheint immer noch auf einen Satz meines Tagebuchs: Bin ich hier richtig, bin ich wirklich richtig hier? Ich hätte auch gehen können – Professor Icks hat alle Unsicheren nachdrücklich dazu aufgefordert, schnell das Haus zu verlassen, ehe es zu spät ist –, stattdessen blieb ich sitzen, sah mich im Saal um und dachte beim Anblick der großen Fenster an mein viel kleineres Fenster und wie viel Zeit noch vergehen würde, bis ich in mein Zimmer zurück käme. Vergessen Sie in diesem Zusammenhang die Freunde nicht, die Freunde! Ob das eine Aufforderung war, lieber einen Brief an einen alten Freund zu schreiben als Sätze in mein Tagebuch? Merkwürdiger Zusammenhang, in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher