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König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

Titel: König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
Autoren: Andrea Winkler
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dem der Professor uns an die Freunde erinnert hat. Wozu braucht ausgerechnet der, der König sein will, Freunde?
    Lieber Jakob! Ich sitze in meinem Zimmer vor der Lampe und habe das Fenster einen Spalt breit geöffnet. Der Frühlingsabend ist so lau, und durch die Gasse, auf die mein Fenster blickt, weht ein ganz leichter Wind, der bis in mein Zimmer kommt und mich beruhigt. Was mich so aufwühlt? Ach, kaum aufgenommen, verstehe ich nichts. Professor Icks hat uns an die Geschichte vom König erinnert, der vom Hofnarren dazu ermuntert wird, sich mittels eines Knoten im Taschentuch an sein Volk zu erinnern. Mir wurde einen Moment lang ganz leicht und warm zumute, und der Abend, an dem Du und ich zusammen im Theater waren und uns der König sehr zum Lachen brachte, breitete sich so klar vor mir aus. Aber der Professor hat in seiner Nacherzählung eine Kleinigkeit durcheinander gebracht: Der König fragt den Hofnarren, was der Knoten in seinem Schnupftuch bedeute, und der Hofnarr antwortet, er solle seine Majestät an etwas erinnern. Und dann erst fällt es dem König ganz freudig ein, dass er ja an sein Volk denken wollte! Glaubst Du nicht, dass dieser feine Unterschied, das knappe Zögern vor der Erkenntnis des Königs, bedeutsam ist? Dann sprach Professor Icks davon, dass wir selbst uns hier, an diesem Ort, täglich entscheiden könnten, wer wir sein wollten, der König, der Hofnarr oder das Publikum, ein Häufchen Volk. Und wer so ein König sein wolle, habe an seine Freunde zu denken! Und als er das sagte, holte der Arm des Professors weit aus, und fast war es, als würde sein Freund, wer seiner Fingerspitze am nächsten saß. Ich saß weit hinten und sah aus dem Fenster, und Du warst da, und wir saßen in der Küche, wie damals nach dem Theaterabend. Sieh Dich um, sieh Dich ruhig um, sagtest Du, und ich ließ die Augen durch den Raum schweifen und sah nur Köpfe, ohne etwas anderes. Königsköpfe, Volksköpfe, Narrenköpfe? Ich vermisse Dich jetzt sehr, Jakob, und verspreche, Dir das nächste Mal etwas Fröhlicheres zu erzählen. Deine Lina, die sich jetzt gleich vom Sessel erheben und zum Fenster gehen wird, um es noch weiter zu öffnen.
    Bin ich richtig hier? Auserkoren, bald, bald das Podium zu betreten und das Publikum an der Hand zu nehmen und in Gedanken zu begleiten, die sich durchaus nicht von selbst verstehen? Aber, Hand aufs Herz, Lina, worüber hast du bisher in deinem Leben nachgedacht? Jetzt ist schon beinahe Mitternacht, und wenn ich so auf Zehenspitzen in der Dunkelheit stehe, fällt mir nichts sehr Bedeutendes ein. Ich sehe ein hell erleuchtetes Zimmer auf der andern Straßenseite, einen zugezogenen Vorhang und den Schatten einer Person, die hin- und hergeht. Hin- und hergehende Menschen gibt es viele auf der Welt, und Spiegel, vor denen sie stehen bleiben, und Sessellehnen, über die sie ihre Kleider hängen, bevor sie schlafen gehen. Manche lassen ihre Hosen und Pullover auch einfach zu Boden fallen, und wieder andere legen ihre Köpfe in die abgewinkelten Arme auf dem Tisch, um nichts mehr sehen zu müssen. Kann sein, es hängt ein wenig davon ab, wer noch bei ihnen ist, im selben Zimmer oder im Zimmer nebenan. Zögern sie heute alle zusammen den Schlaf hinaus? Um sich vom Wind, der zum Fenster herein will, zu einem alten Freund vertragen zu lassen, den sie lange nicht mehr gesehen, aber niemals vergessen haben, und den sie, hätten sie ihn nie gekannt und nie vergessen, finden müssten wie eine Figur aus einem Buch aus vergangenen Tagen? Jakob, Jakob, drüben geht das Licht aus.

II.
    Der Schein der Lampe reicht nicht aus, um Licht in Frau Professor Steins Angesicht zu bringen. Alle Züge verschwimmen darin und verraten, wenn sich die Augen auf uns richten, nichts, gar nichts. Aber richten sich ihre Augen denn auf uns? Ich sehe sie aus dem Gesicht fliegen, ins Büro, das dem Raum, in dem wir zusammen unsere Denkübungen machen, am nächsten liegt. Dort wölbt sich über den Schreibtisch ein Stapel fremder Gedankengänge und fällt und fällt nicht in sich zusammen. Mein Babel! hör ich Professor Stein rufen. Wie, wie werde ich dich je bezwingen? Du willst Klärung, Korrektur und Kontur erfahren? Und stürzen, ins Meer stürzen, und hundert Jahre brauchen, um auf den Grund zu sinken, wo nichts als Ruhe dich aufnimmt. Warte, warte! Ich sitze, wie fast immer, weit hinten, in der Nähe des Fensters, und schaue in den Hof, zur Linde, und zu dem Reisenden, der sich in zweihundert Jahren über Lina
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