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König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

Titel: König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
Autoren: Andrea Winkler
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Lorbeers unscheinbare, nichtssagende Gewöhnlichkeit wundern und als einziger ihr Gesicht unberührt lassen wird. Er winkt mir zu und lacht mich an oder aus, ich weiß nicht. Immer, wenn ich hier im Hörsaal sitze, traue ich meinen Eindrücken nur mehr halb oder gar nicht mehr, ja, ganz plötzlich sehe ich nur noch Köpfe, Häupter wie gemacht, um bald in Stein zu erstarren, und nirgendwo Rümpfe oder Beine, Füße oder Hände. Ob sich das geben wird, wenn man mich von hier hinaus schickt, um meinen eigenen Turm zu bauen, mein Babel, in dem die Gedanken am Meeresgrund dahinsegeln und das Lachen des Reisenden mich entschieden dazu auffordert, endlich an Land zu kommen und mich an die Linde zu lehnen oder den Baumstamm empor zu klettern? Was für ein Wunsch! Frau Professor Stein wünscht anderes. Wir sollen bis zum nächsten Mal der Frage nach unserm ersten erinnerbaren Denkerlebnis nachgehen und nur nicht zu scheu sein, die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit über unser erstes Denkerlebnis, wann und wie auch immer es statt gefunden hat. »Seien Sie aufrichtig, erfinden Sie nichts, konzentrieren Sie sich auf das Wesentlichste, und vergessen Sie nur nicht, dass jeder Satz einem Publikum gilt, das sich insgeheim wünscht, an Ihrer Stelle zu sein, am Podium. Ja, was glauben Sie denn, wie oft schon einer versucht hat, mir meinen Schreibtisch zu rauben, mein Büro, und den Platz da vorne! Glauben Sie, den Dingen auf den Grund zu gehen, ist so wenig begehrt, dass nicht ein jeder gern vor der Welt damit auftrumpfte, dem Volk den Klugen zu mimen? Ein zur Deutung Berufener zu sein, heißt eben auch, heißt eben auch –.« Frau Professor Stein wird gleich in ihrem Büro die Hände über Babel zusammenschlagen. Ach Flora! Ach Justin! Was jetzt? Nicht einmal feiner Sprühregen rührt zur Antwort an mein Fenster. »Wie nervös sie ist, ist sie nicht furchtbar nervös? Sie tut mir leid – soviel, wie sie sich abzuverlangen scheint in ihrem Büro und hier. Aber, sagt mir, verstehe ich sie denn, verstehe ich sie? Dieses Verlangen, das bisschen Raum, das man sich im Denken erworben hat, für sich zu behalten und es sich nicht unversehens entreißen zu lassen von einem, der dasselbe will –?« Flora stiert zur Tafel, ihre Stimme bebt. Justin legt die Hände auf Floras Sessellehne, wie um sich einzuhaken. Er springt auf und geht in die Nähe der Tafel und des Pults, auf das er die rechte Hand legt, während er eine Weile zu uns schaut, ohne ein Wort fallen zu lassen. Aber dann hebt er den Kopf und beginnt, die Augen verkleinernd, zu sprechen: »In ihrem Kern ist die Welt unendlich uneins, ein Gesang um den Bockspreis, lächerlich tragisch. Aber sag mir doch lieber, Flora, worüber du zum ersten Mal in deinem Leben nachgedacht haben wirst. Weißt du es etwa noch nicht? Ich, ich hab es gleich gewusst, ich wusste es immer schon, und mit jedem Schritt, den ich hier die Stufen emporstieg zum Hörsaal, klebten sich meine Gedanken fester an die Wand, wie Fliegen auf Fliegenpapier. Die wollen fest sitzen, versteht ihr? Professor Stein hat uns zu sagen vergessen, dass Denken und Deuten eben auch Fest-auf-einem-Sessel-Sitzen bedeuten, und am besten hier in diesem Haus, am Institut für Gedankenkunde und Verstehen .« Justin setzt sich auf Professor Steins Sessel und legt den Kopf in die Arme. Bestimmt wird er hier einschlafen, und im Traum setzt ihm Flora eine Krone auf und souffliert ihm das Tischgebet, das gesprochen wird, wenn sich der gesamte Hofstaat zum gemeinsamen Mahl versammelt. Ich wäre gern der Mundschenk und hüpfte von Gedeck zu Gedeck und füllte unentwegt Wein in die Gläser. Wenn endlich alle betrunken wären, liefe ich in meine Kammer und schriebe an Jakob. Aber halt! Jetzt noch nicht. Jetzt will »mein erstes Denkerlebnis« offenbart und das Publikum vergessen sein, das Publikum, das sich insgeheim wünscht, ich zu sein, das heißt ich , wenn ich auf der Bühne spreche, vor andern, fürs Volk.
    Ich glaube, ich war noch ein kleines Mädchen und saß eines Nachmittags auf der Schaukel. Es war einer dieser frühen Herbsttage, an dem die Sonne schon halb vergessen auf einen scheint. Ich schaukelte nicht, ich saß nur so auf der Schaukel, meine Füßen gingen auf den Zehenspitzen vor und zurück, in kleinen Schritten, und mein Kopf neigte sich ein wenig zu Boden. Mir wollte der Vormittag keine Ruhe lassen, eine kleine Szene bestand darauf, sich vor meinen inneren Augen wieder und wieder zu ereignen: Ich stand in einer Zweierreihe im
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