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König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

Titel: König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
Autoren: Andrea Winkler
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Klassenzimmer neben Susanne, an vorletzter Stelle. Hinter mir bildete Agnes ganz allein das Ende der Reihe. Die ganze Zeit über starrte sie zu Boden, und es sah aus, als würde sie mit ihren Schuhen etwas hineinschreiben wollen. Aber das war ganz unmöglich, denn von uns allen hatte Agnes bislang am allerwenigsten schreiben gelernt. Sie konnte ja nicht einmal wirklich sprechen. A-A-A, so begann alles, was sie sagte, und meistens war’s dann auch schon wieder zu Ende. Der Fuß der Lehrerin konnte bei A-A-A nicht still halten. Niemand wollte neben einem Mädchen wie Agnes sitzen, einem Kind, das die meiste Zeit über wie verloren da saß und sich vollends in Luft aufzulösen schien, wenn es Rede und Antwort zu stehen hatte. Aber einer von uns musste, und zwar ab morgen. Und wenn das nun ich sein sollte! Wenn ich nun dazu bestimmt werden sollte, neben Agnes zu sitzen und klammheimlich zum zweiten Gespött der Klasse zu werden, und also abwesend, gänzlich abwesend. Und ich saß auf der Schaukel und sah immerfort Agnes hinter mir stehen und mit ihrem Fuß im Boden herumscharren. Mit den Händen strich sie über ihren Rock, und wenn sie den Kopf hob, dann nur, um sich umzudrehen und nachzusehen, ob hinter ihr jemand wäre. Und während ich ihr zusah, wie sie sich immer und immer in dieser Weise bewegte, schämte ich mich. Und ich vergaß, dass dies ein Nachmittag war, an dem ich auf der Schaukel saß, ohne zu schaukeln, und ebenso entging mir, dass die Sonne schien und die Stunden womöglich gezählt waren, in denen ich draußen spielen konnte. Und ganz sicher verschwendete ich nicht einen einzigen Gedanken daran, dass dies ein Tag war, von dem man sich unter andern Umständen wünscht, er möge niemals aufhören. –
    Ob durch diese Erinnerung ein einziger bedeutsamer Gedanke treibt? Und das Publikum – ob es mir wohl die Scham abnimmt? Jakob, was meinst Du? Ich möchte mein Versprechen halten und Dir etwas Fröhlicheres schreiben. Aber wenn es nicht glücken sollte, hab Nachsicht, denn sehr viel Witziges trägt sich derzeit nicht zu. Nachdem Professor Stein den Hörsaal verlassen hatte, stand Justin auf, und anstatt Flora zu besänftigen, deren Stimme aus Mitgefühl für Professors Steins »Verlangen, das bisschen Raum, das man sich im Denken erobert hat, für sich zu behalten« ganz dünn wurde, hüpfte er zum Pult und stellte sich dort auf, als ob er selber schon Professor am Institut für Gedankenkunde und Verstehen wäre. Er erklärte uns, wie und was die Welt sei, ich kann’s nicht wiederholen, alles in mir sträubt sich. Und dann richtete er sich direkt an Flora und fragte, weißt du bereits, worüber du in deinem Leben zum ersten Mal nachgedacht haben wirst? Mir schien, Flora wurde fast noch kleiner als ich, Justin da vorne hingegen beinah so groß wie Frau Professor Stein (die wiederum Justin nur bis zur Schulter reicht), und gleich nachdem er ausgeführt hatte, dass er das immer schon gewusst habe, ja, dass sich seine Gedanken bei jedem Schritt, den er hier, in diesem Haus die Treppe emporgestiegen war, inniger wie Fliegen auf Fliegenpapier hockten, schlief er ein. Und ich kam in seinen Traum als der Mundschenk, der dem König und dem gesamten Hofstaat reinen Wein und nichts als reinen Wein einschenkt, damit alle sieben Jahre lang schliefen und ich endlich in meine Kammer käme, um Dir einen Brief zu schreiben. Hätte nicht, wenn ich der Hofnarr geworden wäre, meine Bindung an den König verhindert, dieser meiner innersten Lust zu folgen? Etwas Kluges hatte Justin noch gesagt, bevor er einschlief, etwas, das mich aufhorchen ließ, aber – ich hab’s vergessen. Ach, Jakob, wärst Du hier – ja, was dann. Lina, die gleich die Lampe ausknipst und noch eine Weile im Dunkeln sitzen bleibt, ehe sie aufsteht, zum Fenster geht, eine paar Grußworte an Niemand auf die Straße schickt und aufschreckt, weil sie zur Antwort das Knarren eines Schaukelseils hört und jemanden, der mit den Händen über Stoff streicht.

III.
    Professor Icks lehnt an der rechten Wand im Hörsaal. Seine Augen streifen durchs Zimmer, als suche er etwas, und dabei bekommt sein Gesicht einen derartig wehmütigen Ausdruck, dass mir, wenn ich ihn anschaue, sanfter zumute wird als mir lieb ist. »Sie alle haben Ihren Gedanken an Ihr erstes Denken freien Lauf gelassen. Die meisten von Ihnen haben Szenen gezeichnet, wie die alten Dichter es nicht besser hätten tun können. Glauben Sie vielleicht, einer der Steinköpfe im Hof hat anders
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