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KNOI (German Edition)

KNOI (German Edition)

Titel: KNOI (German Edition)
Autoren: David Schalko
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mit Tinte, als könnte er den Worten dadurch mehr Gewicht verleihen.
Überall gibt es Häuser, die erst dann zu Häusern werden, wenn es draußen regnet. Überall gibt es Gelegenheiten, Platz zu nehmen. Überall gibt es Bahnhöfe, die damit rechnen, gemalt zu werden. Überall gibt es Orte, die die Ankunft Gottes erwarten. Überall ist es leicht, wenn man überall sein kann
. Überall ist es leicht, dachte Marie. Wie ein transparenter Vorhang aus Stahl fiel dieser Gedanke in ihren Blick. Denn es war nicht leicht, wenn es leicht sein musste. Also begann Marie ihre Koffer zu packen. Kleine Wolke. Und hoffte darauf, dass nichts übrigblieb. Schon gar keine Hoffnung. Gut, die Fantasie. Es sei offensichtlich, dass sie sich so rein gar nichts vorstellen konnte, nicht einmal eine Laterne, wenn sie nicht dastand, und eben diese Fantasie sei notwendig, um etwas zur Schau zu stellen, aber bei ihr reiche es ja nicht einmal zur Schaustellerin. Das hatte ihr letzter Lehrer gesagt. Drei Mal hatte sie gewechselt, und trotz horrender Honorare hatten ihr alle geraten, mit dem, was sie Schauspiel nannte, sofort aufzuhören. Ihr Spiel sei untalentiert, unlebendig, uninspiriert und völlig degeneriert. Ja, der Letzte, bei dem sie allerdings nur ein einziges Mal gewesen war, hatte genau dieses Wort verwendet,
degeneriert
– und deshalb war sie hier, um genau dieses Wort aus den Gedanken zu löschen, um dann wieder einen neuen Lehrer zu suchen.
    Damals habe sie nicht gedacht, dass er zurückkomme, sagte sie. Nichts habe darauf hingedeutet. Nein, sie habe aufgehört, sich das zu fragen. Sie glaube nicht an Schicksal, schon gar nicht, dass er, Jakob, etwas Schicksalhaftes an sich habe. Und dann stand er in der Tür. Wie in einem Südstaatendrama. Gerade dass er auf keinem Strohhalm kaute. Ihre großflächigen Sommersprossen, ihr trockenes, rotgewelltes Haar, ihre leicht gebückte Haltung, die breiten Schultern, ihr schiefer Schmollmund, ihre trüben blauen Augen, der argwöhnische Blick, ihr breitbeiniges Dastehen, ihr knalliger Nagellack, das Vorwurfsvolle in ihrer Stimme, all das würde er eines Tages hassen. Und trotzdem war da etwas, das ihn rührte. Also musste er ein paar Tage bleiben, damit von alldem nichts übrigblieb. Als er da in der Tür gestanden sei, da habe sie es gewusst, sagte sie. Marie und Jakob, das klang nach einer Geschichte. Sie blieb mitten im Raum stehen und wartete mit verschränkten Armen. Sie wollte nicht auf Anhieb ihre Weiblichkeit verlieren. Und Jakob machte es richtig. Er ging auf sie zu und küsste sie. Dann fing alles wieder von vorne an. Nur eben zum zweiten Mal.
    Zuerst flüsterte sie, dann schrie sie ihm seinen Namen ins Ohr. Er hingegen antwortete immer mit der gleichen Feststellung: Ich ficke dich. Manchmal wurde eine Zwischenfrage geschrien. Magst du das? Gegen Ende verband er die beiden Sätze: Magst du das, wenn ich dich ficke?! Und sie schrie immerzu Jakob, bis sie von einem Orgasmus unterbrochen wurde und aus
Jakob
ein
Ja
wurde. Dann sagte sie, ich liebe dich, und Jakob drückte sie enger an sich, antwortete aber nicht. Er reichte ihr ein Glas. Sie tranken Wein und Champagner, tanzten und vögelten, erzählten einander ihr halbes Leben. Am nächsten Tag fuhren sie wieder über die Insel. Sie hatten das Gefühl, schon überall gewesen zu sein. Jakob hatte dennoch Scheu davor, sie zu fragen, ob sie die Insel wechseln wollten. Was hieße das? Wo würde das enden? Also schlug er vor, den Rest des Tages im Zimmer zu verbringen, um weiter an der Karte zu zeichnen, und er brachte sie auf die gleiche Weise zum Orgasmus wie am Tag zuvor. So würde es bleiben. Immer würden sie hierher fahren, um den Jahrestag zu feiern. Sie tränken den gleichen Wein, würden zu den gleichen Liedern tanzen, die gleichen Strecken fahren, und Marie würde den Orgasmus jedes Mal auf die gleiche Weise vortäuschen. Da beschloss er, zu Rita zurückzukehren. Nicht jetzt, aber in ein paar Wochen, wenn die Auszeit abgelaufen war. Und wenn nicht zu Rita, dann nirgendwo bleiben. Unsichtbar werden! Einer, der nur noch als Beobachter am Leben teilnahm. Ohne festen Wohnsitz. Ohne feste Existenz. Den Aggregatzustand ändern.
    Jakob stand auf und nahm den Wodka aus dem Kühlschrank. Marie blieb beim Wein. Er fragte, wie sie mit Nachnamen heiße, wie sie ihre Tage verbringe, wie sie sterben wolle, ob sie an Gott glaube, Lieblingsfarbe, Lieblingsessen, Lieblingsstellung, wie viel Schlaf sie brauche, Bauch-, Rücken- oder Seitenlage, ob sie
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