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KNOI (German Edition)

KNOI (German Edition)

Titel: KNOI (German Edition)
Autoren: David Schalko
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wenn er nicht verstand, warum sie ständig nach diesem einen Moment suchte, wie jemand, der einen Mord aufkläre, aber bei einem Mord gebe es eine Tatzeit, während sich die Liebe nicht anhand von Taten messen lasse. Achtung, da würde er jetzt wieder die Windmaschine anwerfen, sagte er, denn er sei felsenfest davon überzeugt, dass man auch jemanden lieben könne, bevor man ihn kenne. Man spare sich die Liebe auf, sie stehe zur Verfügung, als Kontingent, nur wisse man eben noch nicht, für wen, und vielleicht entstehe so Liebe auf den ersten Blick, wobei er ausschließlich an die Liebe auf den letzten Blick glaube. Nur der echten Liebe wohne dieses gewisse Durchhaltevermögen inne, alles andere sei letztendlich Schwärmerei, und sie sagte, er verwechsle wohl Liebe mit Ertragen und ob er sich denn sicher sei, dass er sie liebe, und er sagte, das könne man wirklich erst am Ende sagen, und dann küsste er sie, um sie am Weitersprechen zu hindern, denn in diesem Augenblick, da liebte er sie nicht.
    Dieser erste Kuss vor der Kirche hatte sehr lange gedauert. Beide überlegten, wie sie sich danach verhalten sollten, und da beide mit sich selbst uneinig waren, küssten sie einander so lange, bis zumindest einer Klarheit hatte. Sie dachte, er, er dachte, sie, und sie dachte, was er dachte, und er, was sie dachte, und irgendwann dachte sie Oh, und er dachte Oh-Oh, und beide küssten auf die gleiche Weise und mochten, wie das Haar des anderen roch, die Temperatur des Windes, der Lippen und der Haut, alles schien Körpertemperatur angenommen zu haben, und dann stiegen sie auf das Motorrad, ohne einander loszulassen, und plötzlich sprang es wieder an, und es fuhr sie von alleine und ohne Zutun ins nächste Hotel, wo sie sich sehr lange liebten. Kein blinder Fleck durfte auf der Karte bleiben. Vergangenheit und Zukunft waren ausgeblendet, zumindest solange keiner der beiden das Geschehen mit einem Orgasmus zu unterbrechen gedachte, und so achteten beide darauf, dass es nicht passierte, auch wenn man sich gegenseitig anflehte, es endlich zulassen zu dürfen. Doch die Wellen im Zimmer übertönten die Wellen des Meeres, dessen Rauschen durch das offene Fenster drang, sie überschlugen sich, und die beiden sprangen von einer Welle zur nächsten, ohne vom Brett zu fallen. Dieser taumelnde Tanz dauerte bis in den Abend. Da hatte sich das Meer längst beruhigt. Marie sagte, seine Haut sei weicher als die der anderen, und Jakob sagte, ihr Flüstern bleibe länger im Raum. Die Grillen zirpten lauter. Die Sterne fielen öfter. Die Ferne schien hier näher. Sie lagen stumm ineinander. Ganz im Atem des anderen. Keine Geschichte, die nicht an diesem Tag spielte. Nichts, was sie aus diesem Zimmer lockte, aus diesem Hotel, von dieser Insel, aus diesem Land. Sie schlossen die Augen. Und hörten nur auf die Sprache, die sie nicht verstanden, die ihnen nichts erzählte, die sie zu nichts zwang und nicht voneinander trennte. Sie sahen einander ähnlich. Merkten es aber noch nicht. Und schliefen irgendwann ein.
    Der Morgen hatte sich lautlos angeschlichen, und als sie den Schrank öffnete, sah sie das, was sie erwartet hatte. Nicht einmal einen Namen hatte er hinterlassen. Daniel. Michael. Matthias. Markus. Bernhard. David. Claudio. Martin. Nino. Keiner wollte so recht passen. Jakob saß zur gleichen Zeit in der prallen Sonne und fand keinen Ort, an dem er nicht mit ihr hätte sein wollen. Nur wenn er die Insel verließ, konnte er darauf hoffen, dass nichts übrigblieb. Er sprang ins Wasser und hielt die Luft an. Gedanken an Rita. Gedanken an Stillstand. Gedanken an Luft. Er tauchte auf. Er hatte Rita vor zwei Wochen einen Abschiedsbrief geschrieben, nein, ein Abschiedsgedicht, was sie noch weniger ernst nehmen konnte als sein übriges Trennungsgetue.
    Du sagst Zufall und meinst Schicksal
,
    du sagst Liebe und meinst Besitz
,
    du sagst Freude und meinst Vergessen
,
    du sagst Tod und meinst das Leben
.
    Sie hatte es gar nicht zu Ende gelesen. Das Prinzip sei ihr schnell ersichtlich gewesen. Ob er ernsthaft erwarte, dass sie auf diesen postpubertären Schwachsinn eingehe. Der unterschiedlich weit gediehene Reifungsprozess ihrer beider Charaktere sei schon immer das Grundproblem ihrer Beziehung gewesen. Genauso hatte sie es formuliert. Er hatte sich in den Zug gesetzt, mit ihrer Zustimmung, und sich eine Auszeit genommen. Vier bis sechs Wochen. Bei Abfahrt begann er Sätze in sein Notizbuch zu schreiben.
Dinge, die es überall gibt
. Er schrieb
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