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Knochenbrecher (German Edition)

Knochenbrecher (German Edition)

Titel: Knochenbrecher (German Edition)
Autoren: Bernd Flessner
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allein die Geräusche, die Greven schließlich aufstehen ließen, es war die plötzlich hereinbrechende Stille, das Fehlen der bis dahin nur unbewusst, aber dennoch registrierten Hintergrundgeräusche, es war die absolute Sprach- und Lautlosigkeit, die seine Ohren herausforderte. Er ging vor bis zur Tür, die ins Behandlungszimmer führte, und schloss sich der Stille an, um vielleicht doch einen Laut wahrzunehmen.
    Doch die Stille blieb stur. Zweimal klopfte Greven, bevor er vorsichtig die Klinke herunterdrückte. Die Tür war verschlossen. Dafür bemerkte er im Augenwinkel einen Schatten, der durch das Wartezimmer flog. Er konnte nur von einem Menschen stammen, der oben auf der Deichkrone direkt vor dem Haus vorbeigelaufen war. Das Behandlungszimmer, das im Grunde aus der zweiten, etwas größeren Hälfte des Doppelhauses bestand, hatte einen separaten Eingang, der auf den Deich führte.
    Greven machte einen Schritt zurück und taxierte kurz die kleine Tür und das antike Schloss, dann trat er zu. Der Widerstand war kaum spürbar. Die Tür platzte auf und gab den Blick ins stumme Behandlungszimmer frei, auf dessen Boden Tante Hedda regungslos und mit offenen, leblosen Augen lag. Greven zögerte kurz, stieg über sie hinweg und folgte dem Schatten.
    Die Nachsaison hatte nur wenige Menschen auf dem Deich und im von hier aus gut überschaubaren Hafenbereich zurückgelassen. Das frisch aus Schottland eingetroffene Tief hielt Tagesbesucher fern. Nur einer der Menschen, die Greven in seinem Blickfeld antraf, rannte. Den halben Weg bis zur Slipanlage, auf der ein Kutter auf einen neuen Anstrich wartete, hatte der Schatten schon geschafft, der zu einer drahtigen Person mit schwarzen Jeans, blauer Windjacke und Pudelmütze gehörte, deren Alter und Geschlecht auf die Entfernung nicht zu bestimmen waren. Der Flüchtige peilte offenbar den Bug des Kutters an, die beste Deckung auf dem ansonsten unbebauten Gelände. Dort war kein anderer Mensch zu sehen. Vielleicht parkte hinter dem Kutter ein Auto. Trotz seines Knies setzte Greven zum Spurt an. Zwar hatte er keine Chance mehr, den Flüchtigen einzuholen, doch wenn er das Heck des Kutters erreichte, bevor dieser ins Auto stieg, konnte er ihn vielleicht hinter dem Kutter noch stellen. Da sich der Flüchtende nicht umdrehte, um auf mögliche Verfolger zu achten, hatte Greven eine kleine Chance, den Unbekannten zu überraschen.
    Als er den halben Weg bewältigt hatte, verschwand sein Konkurrent bei diesem Turnier hinter dem Bug. Greven rechnete nun damit, dass er sich umdrehen und das Terrain aus seiner Deckung heraus beobachten würde. Doch seine blaue Pudelmütze tauchte nicht hinter dem bereits entrosteten Vordersteven auf. Greven versuchte, seine Geschwindigkeit zu erhöhen, aber sein Knie und seine mangelnde Kondition ließen ihn nicht. Keuchend erreichte er das Heck, ohne auch nur einen Fuß des Flüchtigen unterhalb des Bugs gesehen zu haben. Er schnappte kurz nach Luft und ging dann in die Hocke, um vorsichtig einen Blick auf die Steuerbordseite des Kutters zu werfen. Ohne die Lage sondiert zu haben, wollte er sich, unbewaffnet und außer Atem, nicht auf einen möglichen Kampf einlassen.
    In diesem Augenblick hörte er ein Geräusch, als würde jemand an einem Zaun entlanglaufen und dabei mit einem Stock gegen die Latten schlagen. Er riss den Kopf hoch und sah auch schon, wie sich das Spiegelheck des Kutters vor seinen Augen rasant vergrößerte. Für einen Sprung zur Seite, zu welcher auch immer, war es schlagartig zu spät, die Entfernung war für ihn und sein Knie zu groß, der Schienenwagen, auf dem der Kutter lag, zu breit. Reflexartig sprang er nach oben und visierte den Rettungsring an, der außenbords zusammen mit einigen Tauen über der Reling hing. Obwohl er gegen das Spiegelheck klatschte wie ein Vogel gegen eine Glasscheibe, konnte er den Rettungsring packen und sich daran festklammern. Seine Zunge schmeckte Blut, sein rechter Ellenbogen schmerzte heftig, aber er lag nicht zerquetscht unter dem Wagen. Andererseits war er an der Küste aufgewachsen und wusste daher, dass diese überraschende Prüfung mit einem glücklichen Sprung noch nicht ausgestanden war. So gut er
konnte, umfasste er den neonroten Ring, verschränkte die Arme und hielt die Luft an.
    Das Wasser war noch kälter, als er es erwartet hatte, die Welle, die das Heck beim Eintauchen verursachte, noch größer. Erstaunlicherweise hielt die Trosse, an der der Wagen hing, nicht aber der Wagen den
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