Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei
Autoren: J.R. Moehringer
Vom Netzwerk:
du das letzte Mal einen neuen Anzug?
    Oh. Vor zwanzig Jahren. Wenn ich früher gut bei Kasse war, trug ich nur maßgeschneiderte Anzüge. Und Seidenhemden. Von D’Andrea Brothers.
    Er erinnert sich noch an die Adresse: Fifth Avenue  587 . Und an die Telefonnummer. Murray Hill  5 – 5332 .
    Ja, sagt Schneider, D’Andrea, die waren wirklich gut. Ich hab noch einen Smoking von D’Andrea. Steig mal auf das Podest.
    Sutton gehorcht ächzend. Ein Anzug, sagt er. Mein Gott, und ich dachte, das nächste Mal nehmen sie für mein Leichenhemd Maß.
    Ich mach keine Leichenhemden, sagt Schneider. Da sieht ja keiner meine Arbeit.
    Sutton schaut stirnrunzelnd auf die drei gespiegelten Schneider. Reicht es nicht, wenn man gute Arbeit leistet? Muss man sie unbedingt sehen?
    Schneider legt sein Maßband quer über Suttons Schultern, dann längs über den Arm. Zeig mir einen Künstler, sagt er, der nicht gelobt werden will.
    Sutton nickt. So ging’s mir früher auch mit meinen Banküberfällen.
    Schneider betrachtet das Triptychon der gespiegelten Suttons und zwinkert dem mittleren zu. Dann legt er das Maßband über Suttons schlimmes Bein. Innenbeinlänge sechsundsiebzig, verkündet er. Jacke achtundvierzig.
    Als ich hier ankam, hatte ich Größe fünfzig. Ich sollte sie verklagen.
    Schneider lacht leise und hustet. Welche Farbe möchtest du, Willie?
    Alles außer Grau.
    Dann Schwarz. Ich bin froh, dass sie dich rauslassen, Willie. Du hast deine Schuld gezahlt.
    Vergib uns unsere Schuld, sagt Willie, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
    Schneider bekreuzigt sich.
    Ist das aus deinem Roman?, fragt Rechter Wärter.
    Sutton und Schneider sehen sich an.
    Schneider richtet eine Fingerpistole auf Sutton. Frohe Weihnachten, Willie.
    Gleichfalls, Kumpel.
    Sutton richtet eine Fingerpistole auf Schneider und spannt den Hahn. Peng.
     
    Die Reporter unterhalten sich über Sex, Geld und aktuelle Ereignisse. Altamont, das irre Konzert, wo vier Hippies im Drogenrausch starben – wer ist schuld? Mick Jagger? Die Hells Angels? Dann plaudern sie über ihre erfolgreicheren Kollegen, angefangen bei Norman Mailer. Mailer kandidiert nicht nur als Bürgermeister von New York, er hat außerdem gerade eine Million Dollar Vorschuss für ein Buch über die Mondlandung gekriegt. Mailer – der Typ macht Geschichte zu Fiktion und Fiktion zu Geschichte, und dann bringt er sich noch überall selbst mit ein. Er spielt nach seinen eigenen Regeln, während seine regelgebundenen Kollegen nach Attica geschickt werden und sich die Eier abfrieren. Scheiß Mailer, da sind sich alle einig.
    Und scheiß Mond.
    Sie pusten sich auf die Finger, ziehen die Krägen hoch und schließen Wetten ab, ob der Gefängnisdirektor wohl jemals öffentlich als Transvestit entlarvt wird. Außerdem wetten sie darauf, was zuerst passiert – ob Sutton entlassen wird oder ob Sutton abkratzt. Der Reporter von der
New York Post
sagt, Sutton stehe nicht nur an der Schwelle des Todes, er läute auch schon die Glocke und streife sich die Füße auf der Matte ab. Der Reporter von
Newsday
sagt, die Arterie in Suttons Bein sei irreversibel verstopft, das wisse er von einem Arzt, der mit seinem Schwager Racquetball spielt. Der Reporter von
Look
sagt, er habe von einem befreundeten Cop in der Bronx gehört, dass Sutton immer noch überall in der Stadt Knete versteckt hält. Die Gefängnisbehörde lässt Sutton frei, und die Cops folgen ihm dann zum Geld.
    Auch eine Möglichkeit, die Haushaltskrise zu lösen, sagt der Mann von der
Times Union
in Albany.
    Die Reporter erzählen sich, was sie von Sutton wissen, geben Fakten und Geschichten weiter wie kalte Verpflegung, mit der sie die Nacht durchstehen müssen. Was sie nicht gelesen haben oder aus dem Fernsehen kennen, haben sie von ihren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern gehört. Sutton ist der erste Bankräuber in der Geschichte, dessen Wirkungskreis mehr als eine Generation umspannt, der erste mit einer Langzeitkarriere, die vier Jahrzehnte umfasst. In seiner Glanzzeit war Sutton das Gesicht des amerikanischen Verbrechens, einer von wenigen, die den Sprung vom Staatsfeind zum Volkshelden schafften. Sutton war schlauer als Machine Gun Kelly, vernünftiger als Pretty Boy Floyd, sympathischer als Legs Diamond, friedfertiger als Dutch Schulz, romantischer als Bonnie und Clyde. Er sah Bankraub als hohe Kunst und übte ihn mit der zielstrebigen Leidenschaft eines Künstlers aus. Er glaubte an Analyse, Planung, harte Arbeit. Aber er war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher